Autor Thema: Reflexion über das Verbundensein  (Gelesen 1899 mal)

Sufnus

Reflexion über das Verbundensein
« am: Mai 20, 2020, 18:09:30 »
Reflexion über das Verbundensein

Ich wäre alt? Oh nein, die Spiegel lügen,
so lange Du und Jungsein eines gilt!
Erst wenn die Zeit sich zeigt in Deinen Zügen,
schuld ich dem Tod, was meine Tage füllt.

Denn sieh, Dein Wesen birgt der Schönheit Zier
und wird mein Herz in süßen Anschein kleiden:
Was an Dir lebt, bleibt lebenslang bei mir,
wie sollt ich da zur Unzeit von Dir scheiden?

Drum hüte Dich, mein Trost, vor jeder Not,
wie ich mein Heil will Deinetwegen schützen!
Von Herz zu Herz: Die Vorsicht ist Gebot,
wie Mütter sorgend nachts am Kindbett sitzen.

Dein Herz umschließt doch meines Herzens Glück:
Geht meins entzwei, gewinnst Du keins zurück.



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... und errät jemand das Original? ;)


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EDIT: Wegen Metrumfehler (merci @eKy!) S2Z3 geändert! :)
« Letzte Änderung: Mai 22, 2020, 09:55:35 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #1 am: Mai 20, 2020, 23:30:15 »
Hi Suf!

Wunderschön, bloß S2Z3 hat einen Heber zuviel.

Allergernst gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #2 am: Mai 21, 2020, 10:17:18 »
Hi Sufnus,

ich schließe mich Erich an!

Ist das Original ein Hesse?

Nur Gedanken!

Ich wäre alt? Oh nein, die Spiegel lügen,
so lange Du und Jungsein eines gilt:
(Erst wenn die Zeit sich zeigt in ihren Zügen,
schuld ich dem Tod, was meine Tage füllt.)

Doch sieh, Dein Wesen birgt der Schönheit Zier
und wird mein Herz in süßen Anschein kleiden:
(Was an Dir lebt, gehört ein Leben lang zu mir,
wie sollt ich da zur Unzeit vor Dir scheiden?)

Drum hüte Dich, mein Trost, vor jeder Not,
wie ich mein Heil will Deinetwegen schützen!
Von Herz zu Herz: Die Vorsicht sei Gebot!
Du siehst die Mütter nachts am Kindbett sitzen.

Dein Herz umschließt doch meines Herzens Glück:
Geht meins entzwei, gewinnst Du keins zurück.
« Letzte Änderung: Mai 21, 2020, 10:20:21 von Eisenvorhang »

gummibaum

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #3 am: Mai 21, 2020, 11:48:55 »
Tolles Gedicht, lieber Sufnus. Chapeau!

"Lebenslang" war viellecht einmal "ewig".

Liebe Grüße
gummibaum

Erich Kykal

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #4 am: Mai 21, 2020, 12:05:07 »
Hi Gum!

Nein, "ewig" würde metrisch nicht in die Zeile passen. Eine passende Alternative, die die Aussage nicht zwingend verändert, wäre zB:

"Was an Dir lebt, gehört von je zu mir,"


LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #5 am: Mai 21, 2020, 21:33:26 »
Ihr Lieben! Merci vielmals für den Zuspruch! :)

EVs Idee mit den Klammern hat mir als altem Parenthetiker ganz besonders gut gefallen - ich lieeebe Klammern in Gedichten! Ich finde, sie wirken wie ein Signal ans Hirn des Lesers: Hallo, bitte einschalten! Hier würde ich sie nur deshalb weglassen (sie passen wirklich wunderbar), weil sie in der Vorlage nicht vorgesehen sind.
Und eKy hat einen Schnitzer (in diesem Fall ist es wirklich ein Schnitzer!) entdeckt, der mir beim Runterschreiben entgangen ist... bei einer strengen Form solle man auch Formbewusstsein obwalten lassen oder wirklich sehr gute Gründe für einen Formverstoß in petto haben. Also der 6-Heber muss natürlich weg. :) Danke, lieber eKy! :)
Übrigens bin ich mir ziemlich sicher, eKy, dass gum seine Anmerkung (ewig vs. lebenslang) vor allem philosophisch gemeint, weniger so, dass das eine Wort das andere einfach ersetzen soll. :)

Und jetzt noch zur Vorlage... hier verrät tatsächlich die Form den ursprünglichen Autor: Ein vierzehnzeiliges Gedicht (Sonett-Alarm!!!), aber nicht mit zwei Vierzeilern (Quartetten) und zwei Dreizeilern (Terzetten) sondern mit drei Quartetten gefolgt von einem Zweizeiler (Couplet)… das ist das elisbethanische Sonett, das zwar seine formal klassischste Form bei Edmund Spenser (1552-1599) fand, dessen herausragendster Vertreter aber natürlich dieser Typ aus Stratford ist.

Ich habe mich hier also an Sonett 22 von Mr. Shakespeare vergriffen:

My glass shall not persuade me I am old,
So long as youth and thou are of one date;
But when in thee time’s furrows I behold,
Then look I death my days should expiate.

For all that beauty that doth cover thee
Is but the seemly raiment of my heart,
Which in thy breast doth live, as thine in me:
How can I then be elder than thou art?

O, therefore, love, be of thyself so wary
As I, not for myself, but for thee will,
Bearing thy heart, which I will keep so chary
As tender nurse her babe from faring ill.

Presume not on thy heart when mine is slain;
Thou gav’st me thine, not to give back again.




« Letzte Änderung: Mai 21, 2020, 21:42:00 von Sufnus »

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #6 am: Mai 22, 2020, 09:47:15 »
Ahja, Shakespear und der Spenser, von dem es auch Stanzen gibt! Auf dem Eiland schrieb ich Ende 2017 mal was in veränderte Spenserstanzen.
Das Sonnet ist in der Tat sehr schön verfasst.

vlg

EV

Sufnus

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #7 am: Mai 22, 2020, 10:05:53 »
Hi EV!

Ein bisschen Nachpolitur kann das Sonett, finde ich, noch vertragen... die Zeile mit den Müttern (die Du Dir ja auch schon als nicht ganz optimal aufgefallen ist), macht mir noch etwas Kummer. Und Zeile 8 habe ich nicht wirklich nah an der Vorlage übersetzt, es passt aber m. E. zumindest zum Sinn des Gedichts insgesamt. In ähnlicher Weise ist auch der Fokus in der letzten Zeile etwas gegenüber dem Original verschoben... Textnahes Übersetzen und dabei auch die Form und den Tonfall einigermaßen zu berücksichtigen, ist eine knifflige Übung. Aber ich empfehle das sehr, gerade wenn einem sonst nichts so rechtes einfallen will, denn (so geht es mir) häufig komme ich durchs Übersetzen auf neue, eigene Gedanken. :)

Hier mal noch eine Übersetzung des Sonetts von Dorothea Tieck (1799-1841), die teilweise näher am Original ist:

Nennt mich mein Spiegel alt, so glaub ich's nicht,
so lang' der frohen Jugend Hand Dich führt.
Doch furcht die Zeit Dein liebliches Gesicht,
dann schau ich um, ob mich der Tod berührt.

Denn Deine Schönheit, all die reiche Zier,
ist meines Herzens Kleid und edler Schmuck,
es lebt in Deiner Brust, das Dein' in mir,
so fühl' ich nicht vor Dir des Alters Druck.

Drum mußt Du so für Dich, Geliebter, sorgen,
wie ich für mich, nicht mein, nur Deinetwegen;
Dein Herz trag' ich behutsam und verborgen,
will es, wie eine Amm' ihr Kindlein pflegen.

Dein Herz, erschlug'st Du mein's, werd' ich behalten,
Du gab'st es mir, kannst nicht darüber schalten.




Eisenvorhang

  • Gast
Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #8 am: Mai 22, 2020, 10:34:32 »
Sei vorsichtig, mein Liebstes, sag ich dir, (oder: pass auf dich auf!, liebste, das sag ich dir) -> be of thyself so wary = "gib auf dich acht"
ich will dergleichen auch um deinetwillen; (oder: "dasselbe" aber das Wort klingt sehr unlyrisch und kalt)
sehr zart behütet schlägt dein Herz in mir, (oder: sehr sanft umpflege ich dein herz in mir)
wie Ammen, welche kranke Kinder stillen. (oder: du verwendest hier "Mütter")

Nur als Randbemerkung, "faring" im Kontext zu Krankheit meint oft auch ein Verabschieden oder ein Gedeihen.
Da in dieser Strophe zur Vorsicht aufgerufen wird und zur Selbstoffenbarung, wäre es wichtig, eine Sorge einzuweben.
In dem Fall entschied ich mich dazu "ill" wörtlich zu übersetzen und es mit dem krankenden Kind gleichzusetzen. 
« Letzte Änderung: Mai 22, 2020, 10:44:30 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #9 am: Mai 22, 2020, 10:45:23 »
Das sind sehr schöne Zeilen, lieber EV! Willst Du nicht eine eigene Version erstellen? :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #10 am: Mai 22, 2020, 11:31:43 »
HI ihr beiden!

In Tieck's Version hätte ich in der letzten Zeile "walten" benutzt statt schalten - letzteres erinnert mich immer eher an Lichtschalter oder elektrische Relais ...

Ich finde beide Versionen auf ihre Art gelungen. Interessant übrigens, dass das Shakespeare-Sonett genau das verlangt, was im deutschen Sonett verpönt ist (fragt mich nicht warum), nämlich dass sich die beiden letzten Zeilen reimen. Kann es sein, das man im Deutschen diese Regel nur aus dem Grund eingeführt hat, um sich genau von dieser "ausländischen" Sonettform abzugrenzen? Falls ja, finde ich es ziemlich überkandidelt und sinnlos einschränkend.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #11 am: Mai 22, 2020, 13:24:33 »
Zu Shakespear's Zeiten gab es bereits das Wort Mirror... Oder hat er "glass" hier als Abwertung verwendet? Der Spiegel ist nicht ein Spiegel, sondern nur irgendein Glas? Egal, die erste Zeilen ließe sich ja noch umschreiben.

Ich bin nicht alt, nur weil ich Brillen trage.
Solange dich der Jugend Frühling stillt.
Doch zögen durch mich durch die alten Tage,
ich wär, die Schuld zu büßen, frei gewillt. 

Denn all die Schönheit, welche dich umgibt,
ist wie ein Kleid um meines Herzens Blüte,
die jeden Winter kennt und ihn vergibt,
was zählt das Alter? Zählt nicht ihre Güte?

Gib acht, mein Liebstes, ja, das sag ich dir,
ich will dasselbe heute für dich sein;
sehr zart umschließe ich dein Herz in mir,
wie Ammen schützend ihre Kinderlein.

Und hoffe nicht aufs Herz, wenn meins erschlagen,
du gabst mir deins, nun werd ichs ewig tragen.
« Letzte Änderung: Mai 22, 2020, 13:26:10 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #12 am: Mai 22, 2020, 13:50:46 »
Hey EV!
Klasse Übersetzung! :) Aber Glass dürfte wirklich von W.S. im Sinn von "Spiegel" benutzt worden sein, vgl. sein Sonett Nr. 3, erste Zeile: Look in thy glass, and tell the face thou viewest.
Aber das ist eben das Schöne beim Übersetzen, man kann völlig neue Inhalte aus den Mehrdeutigkeiten der Sprache zaubern, der Übergang "Übersetzung - freie Übertragung - Hommage" ist ein sehr fließender... :)
LG!
S.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #13 am: Mai 23, 2020, 11:26:53 »
So, ich habs zum Feinschliff nochmal überarbeitet, somit betrachte ich die "Hausaufgabe" Deinerseits an meine Wenigkeit als erfüllt.


Ich wäre alt! Mein Spiegel spricht die Klage,
und lange jung sei, wen das Jungsein stillt.
Doch zögen durch mich durch die alten Tage,
ich wär, die Schuld zu büßen, frei gewillt.

Denn all die Schönheit, welche dich umzittert,
mein Herz bekleidend, trägt sie mich dir zu,
es schlägt in beider Brüste so erbittert:
Wie kann ich denn nur älter sein als du?

Gib acht, mein Liebstes, ja, dies sag ich dir,
ich will dergleichen heute für dich sein;
sehr zart umsorge ich dein Herz in mir,
wie Ammen schützend ihre Kinderlein.

Und hoffe nicht aufs Herz, wenn meins erschlagen,
du gabst mir deins, nun musst du es ertragen.
« Letzte Änderung: Mai 23, 2020, 12:34:59 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Reflexion über das Verbundensein
« Antwort #14 am: Mai 23, 2020, 14:56:58 »
Das ist ganz wunderbar, lieber EV! :) Ein Amalgam vom alten Will und dem jungen EV! :)
Willst Du es nicht auch als Solitär einstellen? Hier oder in Poetry? Am besten natürlich hier... :)
LG!
S.

EDIT: Ah! :) Bei Poetry ists schon drin... na dann hier nachziehen! :)
« Letzte Änderung: Mai 23, 2020, 15:10:14 von Sufnus »