Autor Thema: Staatsdichter  (Gelesen 1272 mal)

Sufnus

Staatsdichter
« am: Januar 27, 2022, 10:55:48 »
Staatsdichter

Ich bin der Parlaments-Po... Po...
Poet der ersten Klasse
und mach mich vorn und hinten froh,
wenn ich in Töne fasse

der Bundesprofis heiße Luft
(genannt: Regierungskünste),
ich miefe nach Behördenduft
dank meiner Sitzungsdünste.

Als Arsch-vom-Dienst verschaff ich mir
Gehör mit meiner krassen
Beredsamkeit, darauf könnt ihr
ganz locker einen lassen.

Im hohen Scheißhaus bin ich drum
bestallter Oberreimer,
ein Staatsratsdiarrhoikum!
Die Dichtung? Ist im Eimer.



--------

Zum Hintergrund: https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentspoet
« Letzte Änderung: Januar 27, 2022, 14:59:42 von Sufnus »

hans beislschmidt

Re: Staatsdichter
« Antwort #1 am: Januar 27, 2022, 13:34:24 »
Holla mein lieber Suf,
gefällt mir ausnehmend gut ... :o
Ohne "ach und oh" kommst du schnurstracks zur Sache. Das knallt so richtig rein. Normalerweise bin ich subtileres von dir gewöhnt aber DAS steht dir auch ganz gut.
Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Staatsdichter
« Antwort #2 am: Januar 27, 2022, 15:11:59 »
Moin Hans!
Vielen Dank für die Komplimente! :) Mein Schreibziel ist es ja grundsätzlich, mich möglichst aller erreichbaren Ausdrucksformen in der Lyrik zu bedienen, vom hohen Ton über die ungekünstelte Einfacheit und weiter zu avantgardistischen Sprachexperimenten, formaler Artistik und schließlich auch hin zur derben Rede (die aber gerne auch kunstvoll verpackt sein darf)... hier also mal ein Beispiel für Letzteres ;)
Den Hintergrund habe ich noch per Wikipedia-Artikel verlinkt - für alle jene, die das womöglich nicht mitbekommen haben.... es geht also um die kürzliche ventilierte Idee eines staatlichen "Poet Laureate".
Die Erzählstimme hinter meinen Zeilen vertritt hier übrigens eine weitaus kritischere Meinung als ich selbst - während mein Gedicht ja offenkundig einen Bankrott der Kunst erkennt, wenn Sie sich in den Staatsdienst begibt, sehe ich das etwas unentschiedener - und über die grundsätzliche Debatte Pro- und Contra "Parlamentspoet" freue ich mich sogar sehr! :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Staatsdichter
« Antwort #3 am: Januar 27, 2022, 22:48:12 »
Hi Suf!

Ich habe das Werk sowie pro und contra des Artikels gelesen, auch deine persönliche Ansicht im Kommi.

Da gibt es jene wie Hans, die eher staatskritisch sind und im "Haus- und Hofdichter" des Parlaments eine Art Hampelmann sehen, der willfährig Werbung machen soll für restriktive Ordnung und Obrigkeitsgläubigkeit, vielleicht bis hin zu pathetischem Patriotismus (Dulce et decorum est pro patria mori! - usw ...).

Ich sehe auch andere mögliche Bilder: Er könnte auch eine kritische Stimme sein, mahnend vor Machtmissbrauch, oder der Hofnarr, der denen, die sich allzu ernst und wichtig nehmen, lachend den Spiegel vorhält.

Derlei haben wir ja schon im politischen Kabarett. Das Problem eines institutionalisierten Postens ist eben die Gewährleistung der Unabhängigkeit: Wie kann jemand jene kritisieren, die sein Gehalt bezahlen und ihn jederzeit rausschmeißen können, wenn er allzu unbotmäßig ist!? Wie objektiv und ehrlich kann so jemand sein und bleiben?
Da müsste eine glaubhafte Regelung her, die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit für den Dichter garantiert.

die Verdienste von Staatsträgern auch mal literarisch aufzuwerten, wenn es redlich verdient ist, halte ich nicht per se für Speichelleckerei - obwohl es leider von vielen so betrachtet werden könnte, die praktisch jedem Staatsdiener Unlauterkeit und Korruption unterstellen.

Seltsam, dass wir in der klassischen Literatur dem Phänomen viel entspannter begegnen: Keiner regt sich auf, wenn die Elben ein Lied auf Gandalf singen, nachdem er in Moria gefallen ist - im Gegenteil, es erscheint uns als noble und rührende Geste des Respekts. Keiner kritisiert die Heldengesänge der Antike - sie werden sogar heute noch verfilmt und als "große" Geschichten weitergetragen.

Aber ein Gedicht, das womöglich einen aktuellen Politiker lobt? - Da wird gleich heiß diskutiert, so als ob es gar nicht möglich sein könne, dass er/sie derlei verdient! Wie heldenhaft muss denn der Anlass sein, damit es angebracht erscheint, ein Gedicht dazu schreiben zu dürfen? Muss der Protagonist einen tragischen Tod gestorben sein, oder von grausamen Schicksalsschlägen gebeutelt?
Oder erkennen wir endlich mal an, dass Heldentum auch in fast lautlosen, unbemerkten Akten freundlichen Bemühens und stiller Aufopferung für eine gute Sache wohnen kann?

Natürlich wird es jene geben, die für eine publicityträchtige lyrische Laudatio bezahlen würden, sowie solche, die gern für so eine Bezahlung arbeiten. Aber trauen wir uns ernstlich nicht zu, den Unterschied erkennen zu können, wenn wir mit den Personen nur allzu vertraut sind, um die es geht?

LG, eKy
« Letzte Änderung: Januar 27, 2022, 22:53:07 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Staatsdichter
« Antwort #4 am: Januar 28, 2022, 13:38:31 »
Hi eKy!

Vielen Dank für Deine Überlegungen! :)

Ich muss sagen, dass mich bei der Diskussion sogar Kubickis Einschätzung zur Funktion von Künstlern im Allgemeinen oder Poeten im Besonderen ("Stachel im Fleisch der Mächtigen") bisher am meisten irritiert hat. Denn ich finde, dass K. den Künstlern hier eine ganz dezidierte Aufgabe zuweist und die Leistungen von Kunst damit einerseits deutlich unterschätzt (Kunst kann m. E. so viel mehr leisten, als nur die Mächtigen ein bisschen zu zwicken) und andererseits gerade (auf eine etwas listig hinterrückse Weise) die Autonomie der Kunst einschränkt, in dem er sie auf die Rolle des Hoffnarren beschränkt.

Zugegeben: Die Einschätzung von K. klingt ja erstmal ganz nett und freiheitlich, aber wie sähe er denn eigentlich die Sache, wenn Kunst nicht die Mächtigen ärgert, sondern die breite Masse zum Widerstand aufruft, sich also nicht an die Machthaber wendet, sondern an "das Volk"? Da würden wohl die meisten Mächtigen ein Problem haben, denke ich mal ganz unschuldig ;) , und dem Künstler vorwerfen ein populistischer Agitator, ein Demagoge und Massenverführer zu sein, der nur Unfrieden stiften will.

Solche "bösen" Künstler, die eine eigentlich ganz "okaye" Gesellschaftsordnung korrodieren und zu ihrem Totengräber werden, gab und gibt es ohne Zweifel. Tucho wurde z.B. durchaus ernsthaft schon der Vorwurf gemacht, er habe die Weimarer Republik ähnlich systematisch untergraben, wie es die Hetzredner von den politischen Rändern her unternommen hätten - ein böser Vorwurf, sicher nicht wirklich gerecht, aber doch auch nicht völlig aus der Luft gegriffen. Ein besseres Beispiel für das zersetzende, "böse" Wirken von Künstlern ist vielleicht Céline, der einen der wichtigsten Romane des 20. Jh. geschrieben hat, aber zugleich ein wütender Antisemit und Antidemokrat war.

Aber wie sieht es mit Künstlern aus, die sich im Sinne einer "guten Sache" nicht etwa an die Mächtigen sondern die breite Masse wenden? Bertha v. Suttner ("Die Waffen nieder!") oder Remarque ("Im Westen nichts Neues") könnten einem hier in den Sinn kommen.

Was Deine Idee von Lobesgesängen für die "Guten" unter den Mächtigen angeht, lieber eKy, fallen mir tatsächlich sehr wenige literarisch gültige Beispiele aus dem Bereich der Lyrik ein... auf Anhieb eigentlich höchstens "O Captain, my Captain" von Whitman (über Abraham Lincoln) und im Deutschen (und literarisch ein paar Nummern kleiner) "Der tote Liebknecht" von Rudolf Leonhard.

Beide Werke schätze ich übrigens im Hinblick auf ihren literarischen Gehalt nicht (mehr) allzusehr... Whitman's ikonisches Werk flößt mir naturgemäß etwas mehr Respekt ein und als ganz junger Mensch habe ich es (noch vor dem Film "Club der toten Dichter"!)  sogar recht entflammt auswendig gelernt... aber das Verhältnis zu diesen Zeilen ist mittlerweile ein wenig abgekühlt... mehr Nostalgie als Begeisterung. :)

LG!

S.
« Letzte Änderung: Januar 28, 2022, 15:14:33 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Staatsdichter
« Antwort #5 am: Januar 28, 2022, 15:35:01 »
Hi Suf!

Ich hege wenig Sympathie für Leute, die bedeutungsschwanger postulieren: "die Aufgabe der Kunst ist ... !" - und dann eben ihre jeweilige Sicht der Sache einfügen.

Das gilt für den "Staatsdichterfan" ebenso wie für den "Stachel im Fleisch der Mächtigen".

So weit es mich betrifft, IST die Kunst einfach - und das genügt mir.

Ich lasse mich ja auch nicht auf eine bestimmte Inhaltspalette beschränken, auch wenn man es zuweilen versucht hat: Blümchendichter, Romantiker, sonettlastiger Reimeknecht, ... - es gibt auch viele sozialkritische Werke von mir. Langzeilig, kurzzeilig, getragen oder atemlos ...

So wenig wie der Einzelne auf einen einzigen Aspekt festlegbar ist, so wenig sollte man versuchen, die Kunst kanalisieren zu wollen. Jedem recht machen wird man es ohnehin nie.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Staatsdichter
« Antwort #6 am: Januar 28, 2022, 17:07:43 »
Hallo Sufnus,

ein leicht exzentrisches Gedicht. In England gibt es Poet Laureate seit einigen hundert Jahren. Dass die Staatshörig wären, kann man nicht behaupten. Ist wohl auch nicht Zweck des Amtes. Ein Poet Laureate soll zu wichtigen Anlässen Gedichte schreiben.

Dass er dem König in den Hintern kriechen soll ( oder je gemacht hat) ist Phantasie.

Die Engländer sehen es eher als notwendigen Luxus an. Eigentlich bräuchten wir keinen, aber wir können es uns leisten. (Meine Einschätzung.)

Sollte Kunst eine Aufgabe haben?

Nazis und Kommunisten meinten: Ja.

Allerdings waren die Ergebnisse eher Propaganda als Kunst. Weshalb man sich an die Ergebnisse auch nicht mehr erinnert.

Interessant noch: Jean-Paul Sartre wollte "Engagierte Literatur". Zum Beispiel: Romane, die gegen Folter sind, Krieg, Unterdrückung. Er hat mehrere Romane geschrieben (Der Pfahl im Fleische). Ob es ihm gelungen ist, weiß ich nicht, da ich nicht alles gelesen habe.

Die Theaterstücke sind jedenfalls weniger gut, da zu plakativ. Ich denke an die: Ehrbare Dirne.

Vielleicht kann Kunst Aufgaben übernehmen? Es käme nur darauf an, wie sie der Künstler verarbeitet.

Dir einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Staatsdichter
« Antwort #7 am: Januar 28, 2022, 20:37:42 »
In England gibt es Poet Laureate seit einigen hundert Jahren. Dass die Staatshörig wären, kann man nicht behaupten. Ist wohl auch nicht Zweck des Amtes. Ein Poet Laureate soll zu wichtigen Anlässen Gedichte schreiben.

Dass er dem König in den Hintern kriechen soll ( oder je gemacht hat) ist Phantasie.

Hi Rocco!
Das siehst Du das Amt des Poet Laureate in der Vergangenheit (!) zu positiv. Der erste offizielle Vertreter dieses Amtes wurde gleich schonmal gefeuert, als er nach der Glorious Revolution nicht mehr in die offizielle Linie passte und schuf damit schonmal einen warnenden Präzendenzfall. Und DER Poet Laureate schlechthin, Lord Tennyson, düfte nicht unbedingt als staatsferner, kritischer Dichter zu verorten sein. Sein Gedicht "Charge of the Light Brigade" über den sinnlosen Frontalangriff einer 600 Mann starken britischen Kavallerie-Einheit auf wohlbefestigte russische Stellungen im Krimkrieg st pure, heroisierende Propaganda zur Rechtfertigung eines Exempels von Kadavergehorsam (im Wortsinn) und Dummheit.

Sein Gedicht endet mit den Zeilen:

When can their glory fade?
O the wild charge they made!
All the world wondered.
Honor the charge they made,
Honor the Light Brigade,
Noble six hundred.

Der französische General Bosquet (der Augen-Zeuge dieser sinnlosen militärischen Operation wurde) kommentierte lakonischer und zutreffender:

C’est magnifique, mais ce n’est pas la guerre, c’est de la folie.

Tja... die Franzosen... schlaue Kerlchen... :)

LG!

S.
« Letzte Änderung: Januar 29, 2022, 09:52:51 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Staatsdichter
« Antwort #8 am: Januar 29, 2022, 10:23:36 »
Hi Suf!

Zum "Ritt der 600":

Ich gebe dir recht, aber ist seltsamerweise nicht genau diese Art der Narretei - das hingebungsvolle Opfer für ein behauptetes höheres Gut, egal ob sinnvoll und klug oder nicht - meist der Kernpunkt menschlicher Religionen, Märchen, Sagen, Legenden und unsterblichen Geschichten!?

In dem Werk geht es nicht primär um andressierten Gehorsam oder gruppendynamischen Druck bis hin zur Selbstaufgabe - dass der Angriff selbstmörderischer Schwachsinn war, wussten die Soldaten damals selbst, aber die "soldatische Ehre" und ihr Selbstverständnis als funktionierende Maschine verbaten ihnen jegliche Alternative zu einem gegebenen Befehl.
Und ich bin sicher, auch Tennyson wusste um die Vergeblichkeit und den Irrsinn dieser Attacke. Aber was er mit den Versen ehren wollte, war die Treue der Männer zu ihrem Kommandanten, der Geist ihrer Hingabe an eine Gemeinschaft, nicht die taktische Dummheit dieses Befehls (der aus einem Missverstandnis und der Langsamkeit der damaligen Befehlskette resultierte) und die sinnlose Vergeudung von Menschenleben.
Es war das Opfer, das er ehrte - so wie alle diese Geschichten, die wir weitertragen, weil sie uns zu Tränen rühren.

So sehe ich dieses spezielle Werk. Abgesehen davon gebe ich dir rein intellektuell betrachtet aus taktischem Blickwinkel natürlich völlig recht: Es war die närrische Arroganz der siegesgewohnten Briten, gepaart mit dem althergebrachten Bild der ritterlichen Soldatenehre, das stolzen und hingebungsvollen Gehorsam für König und Vaterland bis in den Tod verlangt, die zu dieser Tragödie führten.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Staatsdichter
« Antwort #9 am: Januar 29, 2022, 12:56:38 »
Schönes Gedicht, lieber Sufnus,

das die Hofdichterei auf politische Verhälltnisse von heute überträgt und den Verlust der Kunst zugunsten der Gefälligkeit aufzeigt.

Das eklige Ambiente ("Behördenmief") und die Selbstverachtung des LI kommen gut zum Ausdruck.

Mit Freude gelesen.

Den Link habe ich verfolgt, ebenso die Diskussion hier über um Pro und Kontra einer unabhängigen literarischen Stimme, die gute Politik hervorheben und ehren könnte. Ich denke, dass sie ein zweischneides Schwert ist, da sie (trotz bester Vorsätze) das Bewusstsein der Bürger (je nach Kontext) aufklären oder eintrüben kann.   

Grüße von gummibaum     
« Letzte Änderung: Januar 29, 2022, 19:35:07 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Staatsdichter
« Antwort #10 am: Januar 30, 2022, 12:34:55 »
Hi Gum, Suf!

Der Gedanke ist korrekt, allerdings verrät er, wie wenig Resistenz gegen offensichtliche Manipulation man dem Allgemeinbürger mittlereile zutraut. Sowohl das Gezeter der Zweifler als auch die rationalen Argumente der Abwäger verraten eine nicht eben schmeichlerische Sicht des Geisteszustandes der Durchschnittsbevölkerung - so als müsse man die Einfalt der leicht Beeinflussbaren schützen vor möglichem Missbrauch, der scheinbar allzu leicht fällt.
Trauen wir dem eigenen Volk wirklich so wenig zu?

Nun, gemessen an der Geschichte ist man geneigt, dem zuzustimmen: Wie sonst wären Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs, stumpfsinniger Militarismus und die Grausamkeit der Nazis sonst überhaupt möglich gewesen?

Allerdings kann ich mich an eine Zeit erinnern, als man noch voller Zuversicht in die Zukunft sah und davon ausging, dass die Demokratie absolut sicher wäre. Damals traute man dem Wähler mehr zu, und behandelte ihn auch mit mehr Respekt. Vielleicht hielten die Dummen und Rücksichtslosen auch einfach still, weil es allen gut ging und sie in aller Welt wegen der deutschen Kriegs- und Rassenverbrechen ohnehin ganz mies dastanden.
Das scheint sich mittlerweile zu wandeln: Man darf offenkundig wieder offen "völkisch" sein, seelenlos grausam gegenüber fremder Not, bloß weil man denkt, sie passe nicht hierher oder koste uns zuviel. Man darf wieder ungestraft Angst um "Rasse" und "Kultur" haben, patridiotisch kleinstaatlerisch denken - und Erfolg damit haben in allen Wählerkreisen!

Möglicherweise traut der Bildungsbürger, der all dies wahrnimmt, genau deshalb den bildungsferneren Schichten immer weniger Eigeniniative zu eigenständiger - und vor allem menschlich positiver - Gedanken- und Gefühlsleistung zu. Und alle politisch Aktiven werden für ihn zu machthungrigen Agitatoren, verführenden korrupten Manipulatoren, die sich entweder nur selbst bereichern wollen, oder aber dem Volk wieder totalitäre Denkschemata einimpfen, sie vom Weltbürger kleinschumpfen wollen zu johlenden, waffenschwingenden Kleinclanbeschützern, die nie über ihr eigenes winziges "Tal des persönlichen Stammes-Paradieses" hinausdenken können oder wollen ...

Also ehrlich: Viel mehr kaputtmachen könnte ein offiziell berufender Staatsdichter da auch nicht weiter, egal ob er objektiv und unbeeinflussbar bleibt oder seine Position missbraucht und vergoldet!
Was bei uns eben einfach fehlt, ist die kulturelle Basis - die verbrämte Tradition so eines Postens. Bei uns verortet man die Aufgabe der Kunst, respektive des heutzutage beinahe unbemerkten Waisenkinds der Lyrik, eher im solzialkritischen Bereich - eben als "Stachel im Fleisch der Mächtigen", als Mahner, Erinnerer, Gewissen.

Eine quasi staatstragende Aufgabe erscheint darum vielen wie eine Entheiligung des wahren Zwecks, eine Korrumpierung dessen, was Lyrik sein sollte. Aber sind unser Staat und seine Vertreter wirklich SO schlecht, dass man sie nicht auch mal literarisch loben darf? Ich warne vor so einem Bild! Wenn man dem System gar nichts mehr zutraut, haben es die Propheten der "starken Männer" und der "sauberen Lösung" wieder umso leichter ...


LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 01, 2022, 12:32:40 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.