Autor Thema: Der angekohlte Braten  (Gelesen 640 mal)

Erich Kykal

Der angekohlte Braten
« am: August 02, 2019, 13:06:13 »
Wir rufen gern zuweilen mal ein lautes „Unvorstellbar!“ in die Runde,
wenn wir uns irgendetwas einfach nur nicht richtig vorzustellen wünschen.
Wir rühren wohl nicht gerne zerebral verbal in einer tiefen Wunde,
und ignorieren das Tableau von Stirnenfüßen und gezognen Flünschen.

Wir haben einfach immer gerne schon das allzu rasche Wort geschunden,
um seelisch peinliche Momente möglichst unbedarft zu überbrücken.
Doch sind die Adressaten lebenslang geprüfter Ehrlichkeit verbunden,
hat diese Technik sprachlicher Beschwichtigungen durchaus ihre Tücken!

Wir sollten solcher Binnenfeigheit nicht die aufgescheuchten Worte schenken,
die sie sofort an eine kluge, abgeklärte Hörerschaft verraten:
Wer seines Fühlens kundig lebt und logisch aufgeräumt im darin Denken,
riecht doch sofort den von Verleugnung und Verdrängung angekohlten Braten.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der angekohlte Braten
« Antwort #1 am: August 02, 2019, 21:17:11 »
Im Formalen erstmal ein sehr cooles Sprachexperiment, lieber eKy! Ein neunhebiger (!) Jambus ohne Binnenreime, die die überlangen Zeilen in Halbzeilen untergliedern, so dass sich die Reime auf den regelmäßigen (durchgängig weibliche Kadenzen) Endreim am Zeilenende beschränken. Diese extreme Langform erzeugt eine starke Annäherung an Prosatexte.
eKy selbst, der (zumindest beim Dichten) wohl gar nicht anders als in gebundener Sprache denken kann, hört hier sicher die Jamben ganz klar durch. Normalsterbliche würden aber den Text zunächst wie einen Prosatext in "natürlicher" Sprachmelodie lesen. Dabei würde z. B.  "zuweilen mal" in Z1 durchgängig ziemlich flach betont werden: xxxx (oder vielleicht allenfalls xXxx) und nicht xXxX. Und  das "irgendetwas einfach nur nicht" in Z2 würde wohl eher XxxxXxxx gelesen werden und nicht XxXxXxXx.
Ich selbst bin dann in Z4 in die gebundene Sprache "gekippt" und habe ab da gleichmäßig jambisch gelesen. Dieser Effekt des Wechsels von "natürlicher" Sprachmetrik in gebundene Sprache ist für mich ungeheuer spannend.
Vielen Dank also für dieses lyrische Schmuck- und Kabinettstück, lieber eKy!
Inhaltlich bin ich nicht ganz sicher, ob ich es richtig verstehen. Ich denke, es ist eine Kritik an einer letztlich wohlfeilen Betroffenheitskultur, die alles, was hienieden Schreckliches passiert, etwa Gewalttaten an Kindern, ins Reich des Unvorstellbaren verbannt, womit letztlich einer Auseinandersetzung feige aus dem Weg gegangen wird.
Sehr gern gelesen!!! :)
S.

Erich Kykal

Re: Der angekohlte Braten
« Antwort #2 am: August 02, 2019, 21:22:11 »
Hi Suf!

Danke für die durchleuchtenden Zeilen. Richtig, ich lese automatisch "im Takt" und schreibe auch so, es kommt mir ganz natürlich vor.

Deine Deutung ist ebenfalls korrekt.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der angekohlte Braten
« Antwort #3 am: August 13, 2019, 10:47:17 »
Zufällig bin ich gerade in Wikipedia über eine Angabe zur Häufigkeitsverteilung der Hebungen bei Vierzeiligen Gedichten gestolpert (unter dem Artikel "Vierzeiler" zu finden).
2-Heber: 2,3%
3-Heber: 21,9%
4-Heber: 50,3%
5-Heber: 21,4%
6-Heber: 3,6%
7-Heber: 0,1%
8-Heber: 0,4%
Dein 9-Heber liegt offenbar außerhalb des analysierten Bereichs ;) Ich würde eine Häufigkeit im Promillebereich erwarten (wobei das kleine lokale Maximum bei vierzeiligen 8-Hebern bemerkenswert ist, wahrscheinlich, weil man sie als 4-hebige Oktette verstehen kann).
Damit ist also nochmal statistisch erwiesen, dass Du hier ein ganz außergewöhnliches Werk verfasst hast!

Erich Kykal

Re: Der angekohlte Braten
« Antwort #4 am: August 13, 2019, 11:11:08 »
Hi Suf!

Interessant, aber ich frage mich, wer sowas so intensiv wissen will, dass er das in sicher mühevollster Kleinarbeit und endlosem Durchforsten statistisch evaluiert! Ich hätte für so eine Groschengräberei keinen Zahn - aber manche müssen wohl auch noch Doktorarbeiten über das Tüpfelchen auf dem "i" schreiben, um wirklich das Gefühl genießen zu können, sie hätten ihre Materie wirklich bis auf den letzten Grund erforscht!  ;D >:D

Na, jedenfalls vielen Dank für diesen Blickwinkel - ich habe es immer schon genossen, mich außerhalb "analysierter Bereiche" zu bewegen ...  ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.