Autor Thema: Misanthropie  (Gelesen 935 mal)

Eisenvorhang

  • Gast
Misanthropie
« am: April 03, 2020, 21:15:38 »
Was mich als Dichter wirklich nervt:
Wenn jemand mir vors Fenster scheißt.
Ich mein, es ist, im Dorf zu leben,
sehr schön, ich will es nicht bestreiten!
Wo Amseln singen, Menschen reiten,
durch Täler wandern, Wälder spreiten,
mir sinds die schönsten Augenweiden!
Das kann man sich getrost mal geben!

Doch manchmal setzt es völlig aus:
Wenn sich der Globus fleißig dreht,
der Tag die letzte Pfeife raucht,
und müßig dann die Nacht ansteht,
dann scheint das erste Hirn verraucht,
das schwankend durch die Gassen laucht.
Es kommen die, die's scheinbar brauchen,
um hemmungslos sich zuzusaufen.
Nichts ahnend will ich Eine rauchen
und seh vorm Fenster Menschen laufen.

Das Mondlicht scheint getrübt, ich denk,
die Nacht wird schwer, wird kein Geschenk!
Und eh ich mich des nachts verdreh...
Ein Arschgesicht zeigt seine Wangen,
die zwischen Stern und Ziege prangen
und mir, verzeiht, ich wills nicht sagen,
gelind gesagt die Angst einjagen.

Da torkelt so ein Arschloch her,
entkleidet sich gedankenleer
und stöhnt und presst, der Kot scheint schwer,
und scheißt vor mir den Darm sich leer.
Er dreht sich um, grinst durch das Fenster,
ich arte aus, ich seh Gespenster!
sein Stinkefinger sagt Adieu,
die Wurst am Boden tut mir weh.

Mein schönes Haus, sehr weiß gemalert,
vergilbt nur noch so vor sich hin,
die Amseln grölen: "Brown Alert!"
die Maus denkt sich, "Nichts hat mehr Sinn.."
Oft denk ich an die große Stadt,
bin leer und müd und einfach matt,
doch dann holt mich die Ehrfurcht ein,
ich möchte nicht in Darmstadt sein!
« Letzte Änderung: April 09, 2020, 09:12:11 von Eisenvorhang »

Agneta

  • Gast
Re: Misanthropie
« Antwort #1 am: April 06, 2020, 12:41:09 »
das unter Blumenwiese, ist echt mutig, lieber EC. Es ist eine schöne und bissige Satire, denn Satire hat ja immer ein Körnchen Wahrheit.
GGGGGGGGGG was da so zwischen Stern und Ziege prangt ( sehr witzig echt) hat mich breit grinsen lassen. Ich hab es so gerne gelesen.

Wenn zwischen Stern und Ziege prangt,
was aus der Stadt ins Dorf gelangt,
dann lässt man gern den Hofhund los,
auf das, was prangt so blass und bloß...


GGGGGGGGGGGGGGGG von Agneta

Erich Kykal

Re: Misanthropie
« Antwort #2 am: April 06, 2020, 14:24:48 »
Hi EV!

S1Z7 - Genuss für's Auge sind die "Augenweiden".

S2Z8 - "zu saufen" bitte trennen. Man kann sich zwar auch zusaufen, aber das ist hier von der Satzkonstruktion her nicht gemeint.


Interessanter Text - man fragt sich, ob die Aktion bewusst auf das LyrIch abzielte, um es zu mobben, oder ob sich einfach ein Betrunkener erleichert hat, wo es ihm grad "pressierte". Das geht aus dem Inhalt nicht eindeutig hervor.

Amüsiert gelesen!  ;D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Misanthropie
« Antwort #3 am: April 06, 2020, 16:00:30 »
Hallo Agneta,

Schande über mein Haupt, ich weiß...  ;D

Ich glaube unsere cypi hätte mich geköpft für den Text, man möge mir vergeben, ich will mich aber etwas austesten und ich dachte mir: "Sei's drum!".
Danke für Deinen Kommentar, schön, wenn du es lustig fandest. Das Meckern der Ziege habe ich immer noch im Kopf!

Hallo Erich,

zugegebener Maßen sollte "Augenweite" ein kleiner Neologismus sein, der aber wohl nicht aufgeht.
Wegen "zusaufen", ich meinte... Nicht etwas "zu saufen", sondern "zusaufen", ähnlich wie ein "Zukauf".
In meiner Region wird das nicht getrennt geschrieben, oder existiert da keinerlei Unterschied?

https://www.openthesaurus.de/synonyme/zusaufen

Es geht einfach nur um ein paar Deppen, die sich voll laufen lassen und im Rausche ihres Schwachsinns Mist bauen. Also keine weitere Absicht verfolgen, was ja ein gewisses Bild von Mensch zeichnen will. 
Das Mobbing wäre aber eine Idee für eine Metaebene und zusätzliche Botschaft.

Schön, wenn der Text etwas amüsieren kann, ich hatte schon meine Bedenken damit anzuecken... :))

vlg

EV

Erich Kykal

Re: Misanthropie
« Antwort #4 am: April 06, 2020, 17:26:33 »
Hi, EV!

Es dreht sich hierbei um die Art deines Satzkonstruktes. So wie du es schreibst, musst du entweder "zu saufen" auseinander schreiben, oder du schreibst "zuzusaufen", das würde allerdings nur metrisch passen, wenn du die ganze Zeile änderst: "um hemmungslos sich zuzusaufen".

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Misanthropie
« Antwort #5 am: April 07, 2020, 12:42:08 »
Eine wirklich ganz besonders schön gelungene Moritat, lieber EV! Gekonnter Einsatz von deftigen Ausdrücken und flappsigen Wendungen, die effektvoll mit gehobenen, teilweise auch etwas altertümlichen Sprachelementen kontrastieren. Bei "das kann man sich getrost mal geben" ist das schön zu sehen, "getrost" ist schon recht gehobenes Sprechen, der übrige Satz entstammt eher dem Alltagsslang.

Nur ein paar ganz kleine Verbesserungsvorschläge. :)

S1Z7: Die Augenweiten kommen mir auch schräg vor... ich glaube, wenn man Neologismen einsetzt, die ganz knapp neben einem etablierten Ausdruck liegen und die neugeschaffenen Wörter dann auch noch als Reimwort verwendet, steht immer irgendwo der Vorwurf im Raum, nur reimgeschuldet zu schreiben. Vorschlag: "entfalten sich die Seelenweiten".

S2: Die Reimwörter raucht", "verraucht", "rauchen" sind mir zu repetitiv. Vielleicht einmal durch "schmaucht/schmauchen" ersetzen?`

S3: "...seh Arschbacken im Licht wie Wangen":  Das fällt metrisch komplett aus der gebundenen Rede. Meist bin ich ja gegenüber metrischen Abweichungen recht unempfindlich (siehe meine Anmerkungen zu Ylvas Gedicht), aber da Deine Zeilen durchaus mit einer gewissen Liedhaftigkeit spielen, fände ich hier zumindest ein bisschen mehr metrische Disziplin schöner. :) Es muss vielleicht kein ganz sauberer 4-hebiger Jambus sein, immerhin haben wir hier einen Schockmoment, der sich auch durch ein leichtes Holpern ausdrücken darf. Aber Deine Formulierung mit einem heftigen Senkungsprall zwischen "-backen" und "im Licht" und einem zumindest angedeuteten Hebungsprall von "wie" nach "Wangen" ist metrisch doch sehr irregulär. Vorschläge:  1a oder 1b, jeweils metrisch sauber: "Ein Arschgesicht zeigt seine Wangen" oder "Ein Arsch geht auf mit vollen Wangen" oder 2a oder 2b, jeweils etwas unpolierter: "Arschbackig glänzt ein Po wie Wangen" oder "Arschbackig glänzen hell zwei Wangen". Die Varianten 2a/2b erzeugen auch - im Sinne des Schockmomentums - ein metrisches Ausrufezeichen, weil sich Arschbackig nicht sauber jambisch lesen lässt, aber es fließt dann wieder in den Rhythmus zurück.

S4: "ich weine, denke "siehst Gespenster": Das "weinen" passt hier nicht zum LI, das doch mit seiner handfesten Sprache zumindest geistig wehrhaft wirkt. Vorschlag: "Ich glaub ich spinne, seh Gespenster"

S5Z4/5: Wortwiederholung denkt/denk: Vorschläge entweder "Ein Mäuschen fühlt: 'Nichts hat mehr Sinn...' " oder "Oft träum ich von der großen Stadt,".

Auf alle Fälle ist Dein Text ganz wunderbar - von Anecken keine Spur! Hoher Lesegenuss!!! :)


Eisenvorhang

  • Gast
Re: Misanthropie
« Antwort #6 am: April 08, 2020, 12:47:18 »
Hallo Sufnus! :-)

Vielen vielen Dank für Deine investierte Zeit der Kritik: Mir gefallen von Dir zwei Vorschläge...
Das Arschgesicht und der aufgehende Arsch mit Wangen. Im Moment habe ich mich für Ersteres Entschieden.

Über das Repetitive werden ich nachdenken, ggfls. ändere ich zwei Zeilen vollumfänglich um.
Schmauchen gefällt mir im Moment nicht so...

Wegen dem Weinen, würde ich folgendes schreiben:

Ich arte aus: "Du siehst Gespenster!"
Als Monolog mit sich selbst, oder aber "

Ich arte aus: "Ich seh Gespenster"

Wobei ich mit im Moment nicht sicher bin, ob man "ausarten" so zerpflücken kann.

Zur Not: "Ich raste aus..."

Wobei ich "weinen" nicht schlecht fand, weil es zynische hochgradige Verzweiflung ist.  Im Sinne von "Ich könnte heulen.."

vlg

EV
« Letzte Änderung: April 08, 2020, 12:52:45 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Misanthropie
« Antwort #7 am: April 08, 2020, 15:22:59 »
Hi lieber EV!
Das freut mich sehr, wenn ich etwas für Dich Verwertbares von mir gegeben habe! :)
Deine Idee mit "ich arte aus" find ich sehr interessant - aus dem Verb "ausarten" die Bildung "ich arte aus" zu formen ist grammatisch völlig korrekt, nur semantisch ist es in diesem Kontext keine Standardsprache: Man würde das Verb im Standarddeutschen eher auf Dinge, Sachverhalte oder Situationen beziehen und nicht auf Menschen. Umgangssprachlich (möglicherweise ist das auch etwas dialektal eingefärbt) kann man aber durchaus sagen "ich arte aus" im Sinne von "ich dreh durch" usw. Nun... Gedichte sind per definitionem keine standardsprachlichen Konstrukte... also... ich bin Team "ich arte aus"! :)
LG!
S.