Autor Thema: Winternachlass  (Gelesen 42 mal)

gummibaum

Winternachlass
« am: April 24, 2025, 01:24:29 »
Die Bäume, die auf beiden Seiten
den unscheinbaren Fluss begleiten,
und ersten Frühlingsschimmer zeigen,
sind wie bewimpelt an den Zweigen.

Dort flattern Tücher und Papiere
als ob sich jemand kostümiere,
und Plastikplanen, Windeltüten
weit besser kleideten als Blüten.       

Von nah betrachtet sind die Schätze
nur eitel Müll, und die Gesetze,
nach denen sie hinaufgetragen,
ein Streich aus nassen Wintertagen: 

Der Fluss brach aus im Dauerregen
und schleppte Raub von allen Wegen
zuletzt noch bis in höchste Zweige -
Erst dann ging seine Kraft zur Neige … 


alternativ:

Der Winter schickte Guss auf Guss,
und ungehalten sprang der Fluss
aus seinem Bett und griff vom Rand,
was immer er an Unrat fand.

Dann stieg er in die nackten Kronen
der Weiden, die am Ufer wohnen
und hängte alles in die Zweige. –
Danach ging ihm die Kraft zur Neige.

Im Frühling wollten Weidenkätzchen
hinaus an ihre Blütenplätzchen,
und sahen, auf den Ästen brüten
jetzt Zeitungen und Plastiktüten.

Und dachten augenblicks, es handle,
da sich ja auch das Klima wandle,
um eine dieser Mutationen,
die auch die Vögel nicht verschonen …

« Letzte Änderung: April 24, 2025, 15:51:28 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Winternachlass
« Antwort #1 am: April 24, 2025, 16:02:02 »
Hi Gum!

Beide Werke sind höchst wertig und gefallen mir gut. Wo die Sprache im oberen Gedicht wie ein elegantes Rapier geschwungen wird, in langen Sätzen wie das kunstvolle Bewegen der Klinge bei Fechtfiguren durch die Luft, so erscheint das untere Werk vordergrüdig einfacher gestrickt, mit kürzeren, leicht verständlichen Sätzen und übersichtlich gereihten Satzteilen wie Schüsse aus einem Revolver, pragmatisch, geradlinig und wirkungsvoll.

Zwei Herangehensweisen an dieselbe Thematik, eine höchst lyrisch, die andere beinahe schon in Reimen erzählend, aber anstatt einander zu konterkarieren oder gar zu behindern, ergänzen sie sich sogar noch zu einem runderen Bild des Beschriebenen. Beide Werke atmen den Stil ihres Autors auf ihre jeweilige Weise ganz famos. Chapeau!

Ausgesprochen gerne gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: April 24, 2025, 16:04:38 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Winternachlass
« Antwort #2 am: April 24, 2025, 16:40:18 »
Wow, lieber Erich, was für ein differenzierter, sorgfältig formulierter und wohlwollener Kommentar!

Danke für dein Lob.

Beste grüße von gummibaum