Autor Thema: Alb  (Gelesen 1208 mal)

charis

  • Gast
Alb
« am: Oktober 03, 2014, 22:04:49 »
Der Morgen zeigt sich bleiern schwer,
die Sonne ausgelaugt und leer,
der Himmel vom Kamin gepfählt.
Das Licht hat seinen Weg verfehlt.

Ich folge einem Kreuz, dem Sarg.
Die Lilien mit braunen Rändern
verwelken zwischen schwarzen Bändern.
Das Bild erscheint mir grausam karg.

Der Nebel zäh gesponnen
von räuberischen Spinnen,
auf seelenlosen Steinen,
erstickt den Ton, das Weinen,
das Glück und all die Wonnen.
So gibt es kein Entrinnen?

Zu meinen Füßen tote Ratten,
in Morgentau ersoffen,
bedrängen mich mit dunklen Schatten.
So gab es nie ein Hoffen?

Der Alb zerbricht, zerfällt zu Licht,
das wärmt die frühen Wiesen.
Ein Lächeln, deine Liebe spricht,
sie wärmt, und Tränen fließen.

Erich Kykal

Re:Alb
« Antwort #1 am: Oktober 03, 2014, 23:09:41 »
Hi, Charis!

Das Gedicht gefällt mir. Sind die Wechsel bei Reimschema, Hebern und Kadenzen bewusst gesetzt?

Die Mischung ist jedenfalls bunt:

Reimschemata der Strophen:

AABB

ABBA

ABCCAB

ABAB

ABAB

Heber in den Strophen:

4-4-4-4

4-4-4-4

3-3-3-3-3-3

4-3-4-3

4-3-4-3

Kadenzen in den Strophen:

m-m-m-m

m-w-w-m

w-w-w-w-w-w

w-w-w-w

m-w-m-w


Die Sprache deines Werkes ist schön, allerdings leidet der Duktus m.E. doch durch die wilde Mischung von Reimschemata, Hebungszahlen und Kadenzenfolgen.

Insgesamt gerne gelesen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

charis

  • Gast
Re:Alb
« Antwort #2 am: Oktober 03, 2014, 23:20:44 »
Liebe eKy,
Vielen Dank fürs "gern gelesen" und
das schöne Muster, das den Albtraum noch verdeutlicht. :)
Ehrlich gesagt, war das eine Spielerei mit "Möglichkeiten".
Ich wollte einfach das Gefühl dieser Beklemmung und Verwirrung einfangen, die ein Albtraum erzeugt und
die (vorerst nicht sehr deutliche) Erleichterung und Dankbarkeit, wenn ich Vertraute(s) wiedererkenne.
Lieben Gruß
charis



charis

  • Gast
Re:Alb
« Antwort #3 am: Oktober 04, 2014, 11:34:54 »
Lieber eKy,
Noch ein p.s.:
Ein Teil der beachtsichtigen Umsetzung in S2V2,3, ist mir nicht gelungen, denn "Rand und Band"??, die Ränder und Bänder erschienen mir aber zu "wichtig".
Vielleicht magst du mir erklären, was weibliche oder männliche Kadenzen audrücken sollen bzw. warum man die eine oder andere einsetzt,
ich hab nämlich keine Ahnung. Ich möchte gerne wissen, ob sozusagen mein Bauchgefühl, wenn ich dieses Stilmittel einsetze oder wie es bei mir entsteht, wenn ich etwas bestimmtes ausdrücken will, etwas mit dem zu tun hat, wofür man diese Kadenzen normalerweise in der Lyrik einsetzt.
Vielen dank für dein Feedback.
Lieben Gruß
charis 

Erich Kykal

Re:Alb
« Antwort #4 am: Oktober 04, 2014, 12:36:02 »
Hi, Charis!

Das ist ganz einfach: Es geht um die Strophenenden.

So wie es betonte oder unbetonte Auftakte am Beginn jeder Zeile gibt (zB betont: "Heute, Freunde, wird's was geben", unbetont: "Mir war, als ren tausend ne"), gibt es eben auch betonte oder unbetonte Zeilenenden, je nachdem, ob die letzte Silbe betont oder unbetont gelesen wird (wo also der letzte Heber sitzt sozusagen).

Ein betontes Zeilenende nennt man "männliche Kadenz". zB: "Ich folge einem Kreuz ,dem Sarg."

Ein unbetontes Zeilenende nennt man "weibliche Kadenz". zB: "Die Lilien mit den braunen Rändern"

Die weibliche Kadenz klingt weicher, getragener, eignet sich gut für emotionale Lyrik. So war sie beim streng klassischen Sonett Pflicht in allen Versen.

Besondere Dynamik entsteht durch den rhythmischen Wechsel männlicher und weiblicher Kadenzen. Man sollte dann aber - zumindest bei rhythmisch geprägter Lyrik - beim einmal gewählten Schema bleiben, ansonsten entsteht Unruhe beim Lesen, weil derlei den harmomischen Takt der Sprache stört.

Ich hoffe, ich konnte es erschöpfend erklären.

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 04, 2014, 12:40:49 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

charis

  • Gast
Re:Alb
« Antwort #5 am: Oktober 04, 2014, 13:19:05 »
Lieber Eky,
Vielen Dank für deine Mühe und ausführliche Darlegung. Ich wusste schon, was weibliche und männliche Kadenzen sind, aber nicht wirklich, was "auslösen" sollen.

Die weibliche Kadenz klingt weicher, getragener, eignet sich gut für emotionale Lyrik.
Besondere Dynamik entsteht durch den rhythmischen Wechsel männlicher und weiblicher Kadenzen. Man sollte dann aber - zumindest bei rhythmisch geprägter Lyrik - beim einmal gewählten Schema bleiben, ansonsten entsteht Unruhe beim Lesen, weil derlei den harmomischen Takt der Sprache stört.


Diese Prämissen passen ganz gut zu der Absicht, die ich mit den Kadenzen verfolgte.
"Die mangelnde Bewegung und Erstarrung" im S1 mit nur männlichen Kadenzen, die (beklemmenden) Emotionen in S3 und 4 und die "erlösende Dymnaik" des Erwachens im S5. S2 fällt wie gesagt heraus, aber das stört mich eigentlich nicht wirklich, die weiblichen Kadenzen sind durch die männlichen ohnehin (noch) "gefangen". Die Unruhe wollte ich bewusst erzeugen. Ob sie eben beim Lesen schwierig ist, steht auf einem anderen Blatt. Wie gesagt, war es eine (eher egoistische) Spielerei mit "Möglichkeiten".

Lieben Gruß
charis

cyparis

Re:Alb
« Antwort #6 am: Oktober 04, 2014, 14:55:25 »
Liebe Charis:


Ich machs kurz und bündig (meine Art):

Das ist Poesie, das ist Lyrik, das ist Kunst!!
"Der Himmel vom Kamin gepfählt" -
ein dichterischer Höhepunkt!

Ein Gedicht, das mich hinreißt.


Bewundernden Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Thomas

Re:Alb
« Antwort #7 am: Oktober 04, 2014, 23:12:19 »
Liebe Charis,

ich möchte mich auch ganz kurz dem anschließen, was cyparis (und im Grunde auch Erich) sagt. Sehr gut!

Liebe Grüße
Thomas
S p r i c h t die Seele so spricht ach! schon die S e e l e nicht mehr

(Friedricht Schiller)

charis

  • Gast
Re:Alb
« Antwort #8 am: Oktober 05, 2014, 21:42:53 »
Errötenden Dank!
Lieben Gruß
charis

gummibaum

Re:Alb
« Antwort #9 am: Oktober 05, 2014, 23:51:51 »
Habe das Gedicht ja schon an anderer Stelle gelobt.

charis

  • Gast
Re:Alb
« Antwort #10 am: Oktober 13, 2014, 21:52:49 »
Auch hier, lieben Dank!
charis