... es gibt auch sehr schöne reimlose Gedichte. Aber eben selten. ...
Ich bin anderer Meinung. Es gibt sehr viele schöne reimlose Gedichte, sowohl moderne wie auch ältere, und es gibt viele schöne Gedichte, in denen sich nur jede zweite Zeile reimt.
Der AsraTäglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weissen Wasser plätschern.
Täglich stand der junge Sklave
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weissen Wasser plätschern;
Täglich ward er bleich und bleicher.
Eines Abends trat die Fürstin
Auf ihn zu mit raschen Worten:
Deinen Namen will ich wissen,
Deine Heimat, deine Sippschaft!
Und der Sklave sprach: Ich heisse
Mohamet, ich bin aus Yemmen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben, wenn sie lieben.
Heinrich Heine
Auf meines Kindes Tod
Von fern die Uhren schlagen,
es ist schon tiefe Nacht,
die Lampe brennt so düster,
dein Bettlein ist gemacht.
Die Winde nur noch gehen
wehklagend um das Haus,
wir sitzen einsam drinnen
und lauschen oft hinaus.
Es ist, als müßtest leise
du klopen an die Tür,
als hättst dich nur verirret
und kämst nun müd zurück.
Wir armen, armen Toren!
W i r irren ja im Graus
des Dunkels noch verloren -
du fandst dich längst nach Haus.
Joseph von Eichendorff
Die Füße im Feuer (Conrad Ferdinand Meyer9
Mahomets Gesang (Goethe)
Das Göttliche (Goethe)
Grabinschrift eines Mannes (R. G. Binding)
Nänie (Schiller)
Hyperions Schicksalslied (Hölderlin)
Gesang der Engel (Gerhart Hauptmann)
Um nur einige solcher Gedichte aus der großen Fülle zu nennen. Damit will ich sagen: Wer im Dichten gut ist und Sinn für sprachliche Schönheit hat, kann auf Reime verzichten. Ich bin jedoch mit Euch einig, dass sich die meisten Hobbydichter aus reiner Bequemlichkeit reimlose Verse zurechtschustern. Dabei ist es eine Binsenweisheit, dass erst das Handwerk gelernt werden muss, bevor man ein Meister werden kann. Wegen solcher Stümper kann ich jedoch nicht die reimlosen Gedichte großartiger Autoren in Bausch und Bogen herabwürdigen.
LG
Aspasia