Autor Thema: Projektion nach Freud  (Gelesen 3463 mal)

Eisenvorhang

  • Gast
Projektion nach Freud
« am: Januar 05, 2020, 14:47:09 »
Fast glaubte sie in seine Tiefen abzusteigen.
Sie schaute seine Augen und sie sah sein Weh,
und rings um sie war Leiden nur und Tränen wie aus Schnee:
Den Abgrund sah sie nicht, sie spürte nur sein Schweigen.

Die Worte, die in seine Seele führten, fand sie nicht.
Sie schwieg und nahm sein Herz, auf dem sie Feder führte,
wie jemand, dessen Sprache Liebe spricht;
sie spürte tiefe Traurigkeit, die ihn berührte.

Er blickte zu ihr auf: "Ach, fürchte dich doch nicht!
Ich habe keine Angst, mit uns wird es nicht enden!"
Er küsste jene Furcht aus ihrem Angesicht
und streichelte die Traurigkeit aus ihren Händen.
« Letzte Änderung: Januar 10, 2020, 17:36:57 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Projektion nach Freud
« Antwort #1 am: Januar 09, 2020, 19:47:11 »
Es galt für sie, in seine Tiefe abzusteigen.
Sie schaute seine Augen und sie sah sein Weh
und rings um sie war Leiden nur und Tränen nur aus Schnee:
Den Abgrund sah sie nicht, sie spürte kurz sein Schweigen.

Die Worte, die in seine Seele führten, fand sie nicht.
Sie schwieg und nahm sein Herz, auf dem sie Feder führte,
wie jemand, dessen Sprache Liebe spricht;
sie spürte tiefe Traurigkeit, die ihn berührte.

Er blickte zu ihr auf: "Ach, fürchte dich doch nicht!
Ich habe keine Angst, mit uns wird es nicht enden!"
Er küsste jene Furcht aus ihrem Angesicht
und streichelte die Traurigkeit aus ihren Händen.


Hi, EV!

Schön gedichtet! Ein paar kleine Ideen von mir zur gefälligen Beurteilung:

Es galt für sie, in seine Tiefen abzusteigen. Mit "n" liest sich die Stelle runder.
Sie schaute seine Augen und sie sah sein Weh, Komma.
und rings um sie war Leiden nur und Tränen wie aus Schnee: Vermeidet die Wortwiederholung von "nur".
Den Abgrund sah sie nicht, sie spürte nur sein Schweigen. Hier wiederum erscheint mir das "nur" logischer.


Die Str. 2 und 3 sind makellos und wundervoll geschrieben: Großes Tennis, vor allem S3 und die dortige Conclusio! Chapeau!

Sehr gern gelesen und bewundert!  :) (Ich möchte wissen, wer nach solchen Werken noch von dir zu sagen wagt, du wärst ein Schwurbler!!)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Januar 10, 2020, 22:11:20 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Projektion nach Freud
« Antwort #2 am: Januar 09, 2020, 23:17:40 »
Hallo Erich,

ich bin sehr froh und dankbar, dass du, trotz diverser Rumpeleien in Foren, die ich mit anderen hatte, immer für mich ein Hafen warst, an dem ich anlegen durfte.
Ohne Deine Kritik wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. (Manchmal bin ich stur, weil ich viele Dinge hinterfrage, aber ich muss es tun, weil ich so funktioniere, auch hinterfrage ich gern Regeln und Gesetze... Ich bin eben eigenwillig...)
 
Menschen, die mit "Schwurbel" nicht klar kommen, besitzen in der Regel irgendwelche Probleme, denke ich mir. Ich musste es mir vor zwei Tagen erst wieder "anhören".

Vielleicht empfinden diese Menschen Furcht oder besitzen eine subtile Unreife gegenüber der eigenen oder fremden Emotion und im schlimmsten Fall wäre es Neid.
Mit dem Begriff des Neids, will ich aber vorsichtig haushalten, weil mit dem empfundenen Neid auch immer Größenwahn einhergehen kann. (Andere sind ja nur neidisch, wenn sie sich kleiner fühlen) Und dem will ich wahrlich nicht verfallen, ich will kein unreflektiertes Opfer dieser Überhöhung werden. Ich versuche mit Demut und Bescheidenheit durch die Lyrik zu streifen. Ob mir das immer gelingt, weiß ich nicht. Aber ich versuche es.
 
Ich besitze noch viele Defizite, die teilweise dialektgeprägt sind oder meiner schlechten Schulbildung entstammen. Ich hatte in Deutsch eine vier.   ;D O0

Das bedarf natürlich viel Aufholarbeit und ich bin noch lange nicht da angekommen, wo ich mal hin will. Meine Interpunktion hinkt, und hin und wieder kämpfe ich mit Fallschwächen... Ob ich es je schaffen werde, sie auszumerzen in der Lage bin, wird sich zeigen.
Ich bleibe aber am Ball und die Lyrik holte mich immer wieder im Leben ein... Sie war Freund und Liebe und die warme Jahreszeit, wenn es mal kalt wurde; sie ließ mich nie allein oder im Stich.

Zufälligerweise hat heute jemand anderes im Forum die gleiche Dinge in Strophe eins kritisiert wie du. Unabhängig davon, übernehme ich deine Gedanken sofort, weil sie mir sehr gefallen
und die Strophe nahezu perfekt machen. 

Danke Erich, auch für dein Lob, es ehrt mich. Wirklich!

vlg

EV / Matthias

« Letzte Änderung: Januar 09, 2020, 23:21:09 von Eisenvorhang »

Agneta

  • Gast
Re: Projektion nach Freud
« Antwort #3 am: Januar 18, 2020, 12:59:49 »
wow, EV, das prickelt und hallt nach. Eine tiefe Liebe ist mnchmal auch angstbehaftet. Diese Zartheit der Worte, dies Sanfte, sehr ansprechend.
LG von Agneta

gummibaum

Re: Projektion nach Freud
« Antwort #4 am: Januar 19, 2020, 23:34:04 »
Das ist sehr intensiv geschrieben, lieber Eisenvorhang. Mit Freude gelesen.

Herzliche Grüße
gummibaum

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Projektion nach Freud
« Antwort #5 am: Januar 26, 2020, 18:20:31 »
Ich danke euch für die anerkennenden Kommentare!

 :D

vlg

EV!

Emilie

Re: Projektion nach Freud
« Antwort #6 am: Oktober 07, 2020, 22:54:31 »
Hallo Eisenvorhang,

nur sehr kurz, trachte meine Kürze mir nicht nach.
Ein weiteres Meisterwerk aus deiner Feder!

Ein Liebesgedicht wie dieses zu schreiben, erfordert einiges an "Know-How", Einfühlungsvermögen, Erfahrung, Reife und Talent. Ich hebe es hoch, weil es aus Perlmut ist.

Dies sei dir gesagt.  :)

Bald kann ich wieder etwas aktiver im Forum sein.

 

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Projektion nach Freud
« Antwort #7 am: Oktober 08, 2020, 10:48:42 »
Heyho,

viel zu viel des Lobes, ja, da schätzt du mich völlig falsch ein, denn diese Eigenschaften besitze ich nicht.   >:D O0
Nach meinen Vertonungen wurde die Wiese meiner lyrischen Strebsamkeit quasi abgefackelt
 
Und nun befinde ich mich wieder voll und ganz da, wo ich eigentlich schon immer zugegen war: In der Musik!
Und mache das, was ich schon immer gut konnte. Lyrik verlangte mir da schon mehr Mühe ab und das Fernbleiben aus den Foren ist wie ein goldener Balsam aus Thymian. 

Es freut mich, dass du wieder aktiver sein willst. Deine Arbeiten werde ich still mitlesen. 

Danke für deinen Kommentar.


vlg

EV

Sufnus

Re: Projektion nach Freud
« Antwort #8 am: Oktober 08, 2020, 11:51:45 »
Hey!
Eine gute Idee von Euch, dieses Gedicht aus der Versenkung zu befördern :)
Ich kann mich dem Lob der Vorredner nur anschließen - vor allem die letzte Strophe (eKy schrieb das auch schon) sticht besonders heraus! :)
Interessant beim Gedicht als Ganzes ist, dass die Rollen von "ihr" und "ihm" auf eine sanfte Weise ins A-logische entrückt sind, während "er" in S1 und S2 der ganz passive, leidende Teil ist, verkehrt sich das begründungslos und unvermittelt in S3 ins Gegenteil.
Sehr gerne gelesen! :)
S.

Emilie

Re: Projektion nach Freud
« Antwort #9 am: Oktober 09, 2020, 17:08:23 »

Und nun befinde ich mich wieder voll und ganz da, wo ich eigentlich schon immer zugegen war: In der Musik!


Gern! :-)

Es ist stets gut eine Inseln zu haben!

Interessant beim Gedicht als Ganzes ist, dass die Rollen von "ihr" und "ihm" auf eine sanfte Weise ins A-logische entrückt sind, während "er" in S1 und S2 der ganz passive, leidende Teil ist, verkehrt sich das begründungslos und unvermittelt in S3 ins Gegenteil.
Sehr gerne gelesen! :)
S.

Meine Lesart lässt dies zu: Sie projeziert ihr Befinden in seine Rolle.
Der Titel erscheint als Hinweis. Gerade die Begründungslosigkeit ist oft die empfundene Ohnmacht - wenn wir uns in einem liebenden Verhältnis befinden - die wir fühlen und im Gegenüber ausleben.