Eine Geschichte, die Angst macht
Ich erzähle euch heute eine Geschichte. Eine Geschichte, die vielleicht alle Tage vorkommt, vielleicht auch nicht. Eine, die mich verwirrt, sprachlos macht. Fast hilflos. Eine Geschichte, die mir Angst macht wie damals das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, als ich noch ein Kind war.
Dem Wolf, der nicht die Großmutter frisst, sondern das Rotkäppchen. Weil es verdammt noch mal nicht auf Großmutter hören will.Weil Großmutter Märchen nicht mag.
Märchen, die Menschen erzählen, die sich als stetiges Opfer darstellen und empfinden. Märchen, die sich später als Lügen herausstellen. Es gibt diese Wölfe, die mit hinkender Pfote daherkommen, mit struppigem Fell und traurigen Augen, wo Rotkäppchen vergisst, dass Wölfe keine Haushunde sind. Wölfe bleiben immer Wölfe, sagt Oma, die zunächst auch berührt ist von der Jammergestalt, die Liebe und ein Zuhause sucht. Doch nachdem sie dem Wolf den Tisch gedeckt haben und er nicht mehr geht, wird Oma misstrauisch. Forscht nach, wo kommt der Wolf her, was und wie sind seine Ahnen, wie war sein wahres Leben. Der Wolf aber schweigt. Und Oma, die ihren Handkantenschlag nicht mehr gut beherrscht und sich einem Wolf nicht mehr gewachsen fühlt, sagt: Kreidefresser bleiben Kreidefresser.
Der Wolf ist so gekränkt, dass er geht, sich in die Büsche schlägt. Sein Fell ist nicht mehr so struppig, seine Pfote heilt.
Oma ruft die Tierschützer, dass sie sich um den Wolf kümmern. Damit er nicht im Gebüsch lauert und auf Rotkäppchen wartet. Nur deshalb. Denn ein Lügner bleibt immer ein Lügner und ein Wolf bleibt immer ein Wolf.
Und Oma hat niemanden mehr, der einem Wolf entgegentreten könnte. Ihr Mann, der früher Bäume mit der bloßen Hand ausreißen konnte, ist alt. Wie Oma auch. Einen Hund wie den mutigen, großen Boxer hat sie nicht mehr. Der hätte dem Wolf schon gezeigt, wo es hinausgeht. Aber Oma hat nur sich selbst und ihr Reden. Also redet sie. Auf Rotkäppchen ein. Und weiß doch, dass sie den Wolf so nicht vertreiben kann. Für immer. Nicht mehr.
Er sagt, sie wären seine Familie. Und Oma schaudert.
Darum ruft Oma mich an und erzählt mir diese Geschichte. Eine Geschichte, die nicht alle Tage vorkommt, eine Geschichte, die Angst macht.
Rotkäppchen aber geht heimlich hinaus in den Wald. Sein rotes Käppchen wippt im Wind, ihr Picknickkörbchen baumelt am Handgelenk, bestückt mir leckerer Wurst und Süßigkeiten, die Wölfe mögen. Sie sagt, sie liebt ihn, den Wolf.