Autor Thema: Der letzte Gedanke  (Gelesen 710 mal)

Erich Kykal

Der letzte Gedanke
« am: Juni 19, 2020, 13:49:58 »
Worin, wenn wir zum letzten Mal ermatten,
wird unser Rückbesinnen sich behalten,
sich flüchten aus der Angst vor dem Erkalten
in jenem unaufhaltsam letzten Schatten?

Mit welchen Bildern wird der Geist sich gatten,
zu bergen sich in alter Stunden Falten,
die zählten, um ein Leben zu gestalten,
doch nicht mehr halten können, was sie hatten?

Was weiß der letzte Atem von Geschichten,
die wir ins Buch der Lebenstage schrieben?
Wieviel ist wichtig noch, wofür man brannte,

und was ist uns zuletzt davon geblieben?
Wir strömen weiter in das Unbekannte -
es wird uns trösten oder ganz vernichten.
« Letzte Änderung: August 22, 2020, 13:33:12 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der letzte Gedanke
« Antwort #1 am: September 23, 2020, 08:58:40 »
Lieber eKy!
Beim Stöbern stößt man immer wieder auf lyrische Schätze, die ganz unverdientermaßen bis dato umkommentiert im Forenkeller schlummern und auf Lesebesuch warten. :)
Hier also ein streng gefügtes Sonett über die letzten Gedanken eines Sterbenden... genauer: Über die immer unbeantwortet bleibende Frage, ob sich in einem sterbenden Gehirn die Essenz eines gelebten Lebens wohl zu einem tröstlichem oder destruktivem Gedanken ballt.
Hinreichend bekannt ist dabei jedem auch nur einigermaßen flüchtigen Mitlesen dieses Forums, dass Du von einem Erlöschen der ganzen menschlichen Existenz mit dem Tod überzeugt bist (oder genauer: dass Du dies für das bei weitem wahrscheinlichste Szenario hältst), wodurch sich ja überhaupt erst die Frage nach einem letzten Gedanken stellt. Bei einer Sichtweise, die der gängigen (nicht der einzigen!) christlichen Überzeugung entspricht, nämlich, dass das individuelle "Ich" in Form einer (gewisse Anteile ihrer Körperlichkeit entbehrenden) "Seele" nach dem Tode weiter existiert, kann ein wirklich "letzter Gedanke" in der geschilderten Form ja nicht vorkommen.
Immerhin ist interessant zu beobachten, dass Du in der letzten Strophe eine gewisse Offenheit aufrecht erhältst (wenn auch keineswegs im Sinne christlicher Dogmatik). In der Formulierung vom "Strömen in das Unbekannte" deutet sich eine pantheistische (oder kosmotheistische?) Möglichkeit zumindest an, ohne freilich, dass diese als voraussehbar geschildert wird.
LG!
S.

a.c.larin

Re: Der letzte Gedanke
« Antwort #2 am: September 23, 2020, 09:25:06 »
hi erich,

ich denke, der letzte gedanke wird sich nicht so weit von denen entfernen (können), die vor ihm waren .
begründung: auch ein fluss kann nur dort münden, wohin er die ganze zeit geflossen ist.

also lautet die frage, die man sich ehrlicherweise stellen muss: wohin willl ich gehen? wo will ich am ende angekommen sein?
damit sollte man übrigens schon ein bissel früher begonnen haben - nicht erst auf dem sterbebett.

du hast wieder einmal in deiner unnachahmlichen, metrisch und klanglich vollendeten weise überlegungen über diesen letzten lebensmoment angestellt.
ich wünsche dem Lyrich von herzen, dass es ( und nicht erst dann) trost erfahren wird - welcher art auch immer!

lg, larin

Erich Kykal

Re: Der letzte Gedanke
« Antwort #3 am: September 23, 2020, 13:31:26 »
Hi Suf, larin!

Erst mal vielen Dank für die freundlichen Kommis!  :)

Ich schreibe relativ oft solche leicht morbiden "Sterbegedanken" mit philosophischem Background. Es beschäftigt mich eben. Hier war die Überlegung schlicht, womit sich der sterbende Geist wohl mit dem letzten bewussten Gedanken beschäftigt, wenn er weiß, dass seine letzten Atemzüge gekommen sind (sofern er es bewusst miterlebt).

Schaut er zurück ins eigene Leben, holt hervor, wofür er gelebt, gebrannt hat, was er erreichte, die Menschen, denen er etwas bedeutete oder die ihn liebten - oder denkt er voran ins Ungewisse, beinahe neugierig, was "danach" wirklich sein wird?
Zudem hinterfragt der Text indirekt die Wertigkeiten, die wir unseren Lebensinhalten zumessen. Was bleibt letztlich wirklich? Erinnerung für ein paar Generationen? Eine Namenshülse in Geschichtsbüchern im besten Falle, mit ein paar Jahreszahlen, die Schüler stöhnend lernen müssen? Eine Statue irgendwo? Selbst die wenigen, die wirklich etwas bewirkten, verblassen im Lauf der Jahrzehnte oder Jahrhunderte immer mehr.
Und wieviel von dem, was wir begannen, blieb uns bis zuletzt wichtig? Wieviel Zeit haben wir an längst Überwundenes verschwndet?

Abgesehen davon habe ich mich streng an die Fakten gehalten: Nach dem Tod ist das "Unbekannte", und es ist unausweichlich. Ob etwas hinterher noch denken kann, sich erinnern, können wir nicht wissen. Ich meinte aber, was uns wohl in den letzten Lebensminuten noch so durch den Kopf geht, also eindeutig vor dem Ableben.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Der letzte Gedanke
« Antwort #4 am: September 24, 2020, 11:15:25 »
Lieber Erich,

ein Prachtstück unter all deinen vorzüglichen Sonetten! Hier wird mit großer Umsicht der letzte Moment im Leben umkreist, indem sich nur immer wieder Fragen an ihn herantasten und sich die einzige Aussage am Ende mit einem "oder" als unwissend ausgibt. Auch formal besticht es wieder durch die Verwendung nur weniger Reime.

Mit Genuss gelesen. Chapeau!

Liebe Grüße von gummibaum

Erich Kykal

Re: Der letzte Gedanke
« Antwort #5 am: September 24, 2020, 18:14:17 »
Hi Gum!

Vielen Dank für das vollmundige Lob!  :)

Das obige Sonett ist ganz "klassisches" Reimschema.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
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