Autor Thema: Tagepflückerlied  (Gelesen 654 mal)

Sufnus

Tagepflückerlied
« am: August 25, 2019, 20:58:57 »
Tagepflückerlied

Geborensein, der große Fristbereiter.
Wir sind die Schwelle und die Zeit der Schreiter
auf Reisen von Paris nach Finistère:
HIC SVNT DRACONES - keine Handbreit weiter!
Ein Kinderspiel vom Jetzt zum Ziel... nicht schwer...

Da darf uns schon die scheue Frage beuteln:
Was ist nochmal in diesem Affenstall
der tiefre Sinn? Das ganze Kanzeldeuteln

führt in die Irre oder nirgends hin
(soweit die Innensicht vorm Einzel-Fall,
dem Absturz aus dem Traum vom Lustgewinn).

Doch wenn der Geist weht, steigt im Wind der Mut,
und Leib und Seele sind einander gut.
Dann gilt kein kleinliches Verlustbeklagen,
die Freude füllt den Kopf bis untern Hut

und hilft dem Herz den längsten Tag ertragen.

Erich Kykal

Re: Tagepflückerlied
« Antwort #1 am: August 25, 2019, 21:42:55 »
Hi Suf!

Alles miteinander, unsere Existenz, die Sinnsuche, Irrungen und Wirrungen, aber auch der Mut, immer Neues zu wagen, die Zuversicht, die uns weiterträgt!

Hier gibt es Drachen! - Wohl wahr ... vor allem in uns selbst.  ;) >:D

Sehr akzelerierte, komplexe Sprachhabung mit vielen Anspielungen, manche Bilder muss man regelrecht sacken lassen, andere eher dechiffrieren, aber wenn man dessen mächtig ist, erschließt sich der ganze humane Kosmos ...

Der Titel hat Brecht'sche Qualitäten.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 25, 2019, 21:44:49 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eleonore

  • Gast
Re: Tagepflückerlied
« Antwort #2 am: August 26, 2019, 10:15:12 »
Hallo Sufnus,

Doch wenn der Geist weht, steigt im Wind der Mut,
und Leib und Seele sind einander gut.
Dann gilt kein kleinliches Verlustbeklagen,
die Freude füllt den Kopf bis untern Hut

und hilft dem Herz den längsten Tag ertragen.


Ich spüre förmlich den Aufwind
und Tage des Drachensteigen-Lassens - gemeinsam mit dem Vater erst und später mit Freunden und schließlich mit den eigenen Kindern sind sehr gegenwärtig.

Herzlichen Dank

Eleonore

Sufnus

Re: Tagepflückerlied
« Antwort #3 am: August 26, 2019, 10:48:48 »
Ihr lieben! :)
Dankallersehrst für Euer Lob!
Das Gedicht ist aus einem liegengebliebenen Fragment entstanden, das mit der Zeile "Wir werden klein, die Welt wird immer weiter" begann - aber außer der Reimendung "weiter" und einem vagen inhaltlichen Anklang ist dann rein gar nichts mehr von diesem Fragment übrig geblieben... ;)
Dein Vergleich mit dem (nur im literarischen, nicht im menschlichen Sinne) großen B. B., lieber eKy, ist zuviel der Ehre, aber er freut mich natürlich trotzdem. Im Titel soll der alte Terminus "Tagelied" anklingen, ein mittelalterlicher Minne-Gesang der Liebenden beim Anbruch des Tages - ein Echo davon ist bei Romeo und Julia zu finden ("es war die Nachtigall und nicht die Lerche"). Und natürlich verweist der Titel auch auf das gute alte Carpe Diem.   
Dass Du das Bild vom (Papier-)Drachen, den man im Wind steigen lässt, herausgelesen hast, Eleonore, freut mich sehr!
LG!
S.