Hi Curd!
Das ist in meiner Familie verbreitet:
Meine Ureltern sparten vor dem ersten WK vierzig Jahre auf ein eigenes Häuschen - dann kamen Krieg und danach die Inflation - am Ende reichte das lebenslang Ersparte gerade noch für einen Laib Brot ...
Meine Tante sparte ihr Leben lang, versagte sich jeden Luxus, selbst von mir ermuntert, sich doch etwas vom Ersparten zu gönnen, so lang sie noch könne, blieb sie lieber nur drauf hocken - und vererbte es mir ...
Mein Vater schuftete sich dreißig Jahre mit bis zu 16 Arbeitsstunden täglich mit Beruf und Nachhilfe ab, um uns ein Haus bauen zu können und starb, kaum dass die Schulden abbezahlt waren. Heute lebe ich allein in diesem Haus ...
... schreibe Bücher und vergeude viel Geld damit, aber vertage den Versuch, sie zu verbreiten und mir einen Namen zu machen, auf "später in der Pension, wenn ich Zeit habe", obwohl nicht feststeht, ob ich dieses Alter je erreichen werde ...
Die Vorstellung, als Literat anerkannt und bekannt sein zu können, wenn ich es nur wollte, ist wohl tröstlicher als ein mögliches Versagen beim ehrlichen Versuch ...
So verstreichen uns allen die seltenen besonderen Momente - kurze Zeitfenster an Scheidewegen unseres Geschicks, wenn eine einzige Wahl das ganze Sein neu definieren könnte. Das sind nämlich beileibe nicht alle Momente, sowas funktioniert nicht jederzeit. Aber wir tun lieber so, als würde sich "irgendwann später alles wie von selber fügen", weil alles, was wir wirkten und wir selbst ja nicht umsonst gewesen sein KANN! Doch, kann es! Die meisten Menschen sogar bleiben völlig belanglos außerhalb ihres engen Beziehungsrahmens, ihrer kleinen Welt. Und sogar mitten darin versäumen sie die meisten Entscheidungsmomente und wundern sich später, warum ihr Dasein so belanglos und nebensächlich verlaufen ist. Und für nicht wenige ist das sogar okay und erstrebenswert: Bloß keine Abenteuer! Keine Wagnisse ohne Netz und doppelten Boden! Und dennoch nennen sie es "ein Leben".
Ich habe kein Recht zu klagen - abgesehen von meinen wenigen genutzten Talenten verläuft mein Dasein genau so unaufgeregt und belanglos, trotz kurzer Eskapaden in Rockerszene und anderen "Nebenwelten". Mein natürliches Phlegma hält mich zurück, ich habe mein Leben eigentlich nie bewusst gesteuert, habe mir die Welt immer nur zustoßen lassen, nie geplant, immer nur treibend, ohne eigenen Antrieb oder Willen. Und je älter ich werde, desto weniger ist überhaupt noch von Bedeutung ...
Manchmal erscheint es mir, als atme ich nur noch aus alter Gewohnheit, als "funktioniere" ich nur noch deshalb, um theoretische Andere nicht zu enttäuschen oder zu betrüben - um ein Bild aufrechtzuerhalten, das irgendjemand zu sehen erwartet, wenn er mich betrachtet, so wie ich es in einem Spiegel täte.
Und weil ich immer noch ein wenig neugierig bin, wie es mit der Welt so weitergeht ...
LG, eKy