Autor Thema: Wie unter Theseus  (Gelesen 1457 mal)

gummibaum

Wie unter Theseus
« am: April 12, 2020, 00:19:17 »
Stetes Altern und Erneuern
hat, was war, bald ausgekämmt,
und indem es andre steuern, 
werden wir uns selber fremd.

Wie das Schiff, das vom Gedanken,
es zu fahren noch ein Jahr,
ausgetauscht an Mast und Planken
nicht mehr wusste, wer es war…
« Letzte Änderung: April 12, 2020, 12:27:42 von gummibaum »

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wie unter Theseus
« Antwort #1 am: April 12, 2020, 11:50:10 »
Hi gummibaum,

hier lese ich gesellschaftliche Kritik heraus, die Abgabe der Mündigkeit.

S1Z1 - ein Vertipper!

Stetes Altern und Neuern
XxXxXXx
Stetes Altern und Erneuern
XxXxXxXx

Der Vergleich mit dem Schiff ist sehr schön.

vlg

EV

gummibaum

Re: Wie unter Theseus
« Antwort #2 am: April 12, 2020, 12:32:01 »
Danke, liebe Eisenvorhang. Hab es korrigiert. Hier eine kleine Hintergrundsinformation dazu.

https://www.youtube.com/watch?v=9zl8j7eq-Is

Frohe Ostern wünscht dir
gummibaum

Erich Kykal

Re: Wie unter Theseus
« Antwort #3 am: April 12, 2020, 12:39:48 »
Hi Gum!

Schönes Gleichnis! Das menschliche Leben als fremdbestimmtes Schiff. Es spürt seinen Steuermann nicht und denkt vielleicht, selbst zu entscheiden, merkt nicht, dass es auf allen Ozeanen dieser Welt von Gefühlen, Bedürfnissen, Trieben oder äußeren Einflüssen wie Ideen oder manipulativen Machtinteressen anderer gelenkt wird.

Wenige Menschen bringen genug Mut auf, sich selbst und ihren Kurs objektiv selbst zu erforschen und zu hinterfragen. Wer fragt sich schon gern selbst nach den wirklichen Gründen und Ursachen für das eigene Handeln, all die Kindheitstraumata, unerfüllten Sehnsüchte und inneren Bedürfnisse, die den Cocktail des individuellen Charakters ausmachen, seine ewige Triebfeder sind, bis sich das Werk müdegelaufen hat ...

Diese Motivationen mögen wechseln, ausgetauscht werden wie Ersatzteile auf einem Schiff, aber sie scheinen von eminenter Wichtigkeit zu sein, so als wollten wir selbst uns niemals in Bewegungslosigkeit betrachten, als würden wir vor den wirklich tiefen Einsichten davonlaufen, immer neue Fernen und Kontintente bereisen wollen, um uns darin zu verlieren, ohne je das eigene Innere bereist zu haben. Selbst wenn wir anderer Fracht transportieren müssen, nur um uns der eigenen "Nützlichkeit" versichern zu können, tun wir es ohne Murren, meist ohne je über ide Fracht nachzudenken und welchen Interessen sie wirklich dient. Hauptsache aktiv und abgelenkt von den inneren Gewichten ...

So enden wir irgendwann abgewrackt und ausgesondert. Keine Flotte will uns noch - und dann brechen viele einfach auseinander, wenn sie erkennen, dass sie lebenslang nur brave Ameisen waren aus Angst vor Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung - und dann sehen sie keinen Sinn mehr darin, in hohem Alter noch damit zu beginnen.

Sinn - selten war ein Begriff so beliebig befrachtbar und dennoch offenbar uns so wichtig - leider meist aus den falschen Gründen. Ich fürchte, wir werden als Individuen erst mündig und selbstbetimmt werden können, wenn wir es schaffen, uns von dieser Prämisse der unabdingbaren Sinnsuche endlich ersatzlos zu verabschieden!

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy


PS: Las deinen Link zum Theseus-Gedanken: "Warum bleiben wir "wir selbst"? - Ich denke, weil wir uns in unserer Selbstdefinition schon im Kern als veränderliche Entitäten betrachten. Trotz allen Beharrungsvermögens der menschlichen Natur beweist unsere Geschichte, wie flexibel, anpassungsfähig und veränderbar wir tatsächlich sind, oft ohne es lange Zeit bewusst zu merken. Aber unsere Selbstdefinition fußt nicht auf Wissen oder Lebensgeschehnissen, so sehr dies auch unseren Charakter prägt, sondern primär auf dem Gefühl permanenter Selbsterfahrung als aüßerlich wie innerlich bewegliche Einheit.
So greift dieser "Das bin ich!"-Gedanke über alle Veränderungen eines Lebens hinweg, als Kernelement des Mensch- und Lebendigseins.
« Letzte Änderung: April 12, 2020, 12:49:19 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Wie unter Theseus
« Antwort #4 am: April 12, 2020, 14:54:58 »
Das ist ja wieder ein schöner Kommentar, lieber Erich. Ganz herzlichen Dank.

Wie du sagst, unterliegen wir vielen Prozessen, auf die wir keinen Einfluss haben, und in Bereichen, wo wir mitsteuern können, versäumen wir es. Die Sinnsuche ist eigentlich müßig, aber wohl etwas, wozu das Sein tendiert und im Menschen fähig geworden ist.

Das Gefühl der Identität bei allem Wandel hängt gewiss davon ab, dass "wir uns in unserer Selbstdefinition schon im Kern als veränderliche Entitäten betrachten". Auch die Erinnerungsinhalte, das Bemerkungen von Wiederholungen, das Fortwirken von Lebensentwürfen u.a. halten uns irgend als diskrete Einheit zusammen.

Schöne Ostern wünscht dir
gummibaum

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wie unter Theseus
« Antwort #5 am: April 12, 2020, 15:35:13 »
Danke für den interessanten Link, der es kinderleicht zu erklären vermag.

Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich einer Sinnsuche anhängen. Das Leben ist für mich, so wie ich selbst auch, ein ständiger Wandel. Wir häuten uns permanent, so wie im Video erklärt, sind wir alle sieben Jahre ein neuer Mensch. Für mich existiert auch kein Tod, ich setze den Tod mit dem Winter gleich. Denn der Winter ist nicht unlebendig, nur wähnt er sich in Ruhe. Diese Art und Weise des Alterns und Erneuerns befindet sich überall in der Natur ohne Ausnahme. Im Weltall, die Sterne und Planeten, die Pflanzen, regulatorische Kreisläufe in unserem Körper wie die Venenklappen oder der Windkesseleffekt, oder neurologische Efferenzen und Afferenzen, die Muskulatur in den Arterien und Venen, Dilatationen und Konstriktionen.
Alles ist ein Wechselspiel, das Eine bedingt das Andere.

Vielleicht ist unser Leben wie eine Knospe, dessen Vergangenheit zu einer permanenten Lügen wird, denn die, die wir sind, werden wir nie wieder sein.
Da stellt sich die Frage, ob aus der Erneuerung das Alte je bestanden hat und wenn ja, ob es für das Jetzt notwendig war, so, dass das Jetzt keine Konsequenz aus dem ist was war.

Vielleicht versäumen wir das Mitsteuern im Leben in Bereichen, weil wir es da nicht benötigen.
So ist auch die Physiologie im Körper angelegt, alles funktioniert auf eine Weise, die wir brauchen. Vielleicht ist das mit der Seele und Entscheidungen, die aus einem scheinbar freien Willen resultieren, nicht anders.

Ich glaube beide Schiffe am Ende, sind nicht wir.
Vielleicht sind wir das Meer, auf dem wir die Realität (Schiffe) oberflächlich verschmerzen.

vlg

EV
« Letzte Änderung: April 12, 2020, 15:36:56 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Wie unter Theseus
« Antwort #6 am: April 12, 2020, 19:37:06 »
Wir leben nun man in einem völlig unstatischen Universum, alles ist ständig in Bewegung. Dem durchschnittlichen menschlichen Geist erscheint dies aber zu unübersichtlich und zu unverlässlich. Er möchte Stabilität und Sicherheit, und immer so, wie es seinen inneren und äußeren kulturell wie charakterlich fundierten Bedürfnissen gerade bequem erscheint.

Illusorisch, aber unausrottbar. Deshalb wird es noch lange Religionen oder Staatsräson geben, sogenannte unltimative Wahrheiten, Kreuzzüge aller Art, Propheten und Heilande. Mensch, mögest du reifen, ohne an dir selbst zugrunde zu gehen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Wie unter Theseus
« Antwort #7 am: April 12, 2020, 22:42:02 »
Ja, lieber Eisenvorhang, geradlinige und kreisförmige Prozesse erleben wir und beide sind unserem Denken einbeschrieben, und es kann nicht anders, als die Welt danach zu ordnen. 


Ja, lieber Erich, der Mensch "möchte Stabilität und Sicherheit". Das braucht jedes Leben und danach verhält es sich von Anbeginn. Veränderungen erzeugen Schutzrefexe, die auch zu Geisterbeschwörungen und Glaubenskriegen führen. Die Ratio steckt noch in den Kinderrschuhen und wird oft von den älteren Verhaltensmustern instrumentalisiert.


Ich danke euch sehr  für die interessanten Kommentare.

Alles Liebe
gummibaum