Autor Thema: Ende des Drills  (Gelesen 1167 mal)

gummibaum

Ende des Drills
« am: Februar 08, 2022, 20:39:52 »
Er schritt von einem Ich zum andern,
bewohnte jedes wie ein Haus,
hielt aber keines lange aus
und war gezwungen fortzuwandern.

Nach einer Zeit war er dann wieder
am Anfang, bei dem ersten Ich.
Es grinste, und er schämte sich
und ließ sich kaum mehr darin nieder.

Und immer schneller lief sein Leben
auf einer Kreisbahn wie ein Drill
und stand dank Wiederholung still. -
Er hat es deshalb weggegeben…


Erich Kykal

Re: Ende des Drills
« Antwort #1 am: Februar 09, 2022, 00:06:58 »
Hi Gum!

Eine Variante von "Und täglich grüßt das Murmeltier" (Groundhog Day) ...  >:D

Interessant, warum der Protagonist es nie untermahm, sich gänzlich neue Ichs (oder Selbstbilder, anders gesagt) zu erschaffen ...  ???

Stattdessen ewiger Ringelpiez wie auf einem Zifferblatt, dessen Zeiger immer schneller rasen ...

Normalerweise entwickelt man sich - und damit seine Rollen, Selbstdefinitionen und Eigenbilder - stetig weiter, verliert manche "Ichs" oder legt sie ab wie aus der Mode gekommende Kleidung, und erschafft sich neue, passendere.
Hier aber nicht: Es bleibt immer bei derselben Auswahl in immer gleicher Abfolge. Man fragt sich, wie das sein kann. Ist der Protagonist zu wenig anpassungsfähig, oder der Gedanke des Gedichts zu wenig tragfähig, um menschliche Entwicklung adäquat zu umfassen?

Oder will uns das Werk etwas anderes sagen: Die ausweglose Alltagsmühle mit den ewig gleichen Abläufen vielleicht, die uns die immer gleichen Rollen aufzwingt, bis mit zunehmendem Alter die Tage zu rasen scheinen, bis sie ineinander verschwimmen, eine stupide Abfolge längst entseelter, starrer Rituale, getragen von Gewohnheit, der Illusion von Sicherheit dadurch, und der Angst vor unbewältigbarer Veränderung?

Da kann es wohl sein, dass man sich irgendwann einfach "gehen lässt", und das muss nicht mal ein Suizid sein. Ohne Lebenswille geht ein alter Körper nicht mehr viele Schritte ...

Gern gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Februar 09, 2022, 00:08:34 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Ende des Drills
« Antwort #2 am: Februar 09, 2022, 11:06:07 »
Danke, lieber Erich, für den einfühlsamen und interessanten Kommentar.

Es gibt solche sessilen Lebensweisen, obwohl scheinbar viel Bewegung stattfindet. 

Was die objektive seelische Entwicklung angeht, ist ein genaues Wiederholen der Identitäten natürlich nicht möglich. Aber als subjektive Wahrnehmung kenne ich es.

Im Übrigen sind viele Lebenserscheinungen (wie die Generationenbildung) scheinbar Kreisläufe, und dieses Kreisen die stabile Grundlage eines langsamen Fortschrittes.

Liebe Grüße von gummibaum

Erich Kykal

Re: Ende des Drills
« Antwort #3 am: Februar 09, 2022, 17:49:34 »
Hi Gum!

Wie wahr! Da die Kreativität und die Möglichkeiten des menschlichen Gesites begrenzt sind, folgt vieles einem Kreislauf und kommt immer mal wieder: Mode, Musik, Namen, usw ...
Wenn man lange genug lebt, beginnt man dies wahrzunehmen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.