Autor Thema: Perspektive  (Gelesen 525 mal)

Erich Kykal

Perspektive
« am: Februar 09, 2022, 00:36:24 »
So zierlich zart, begehrenswert und selten lieblich
das Bildnis deines schlanken Leibes, jugendlich -
und doch, bedenkt man es, nur ein Gerüst von Knochen,
umhüllt von nassen Fleisches Muskelwerk und Blut,
in einer engen, haarigen, verschwitzten Pelle.
Und doch erscheint an dir kaum jemals eine Stelle
mir nicht berückend und den süßen Sinnen gut,
und unverbrüchlich meinem Himmelsglück versprochen!

Wie kann es sein, dass eine Wiege für Gedärme,
mit feuchten Atemzügen um ihr Dasein ringend,
und haltlos alternd in ein kränklich schlaffes Bild,
mich so erheben mag, dass die Gedanken wild
um Lüste gleiten, meine Seligkeit erzwingend
mit ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit und Wärme?
Es ist wie stets die Perspektive, die entscheidet,
ob man die Welt erlebt - ob man die Welt erleidet.
« Letzte Änderung: November 18, 2023, 21:56:02 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Perspektive
« Antwort #1 am: Februar 09, 2022, 13:45:19 »
Sehr schön wieder, lieber Erich!

Die Frage, warum wir einen Körper schön finden und für ihn schwärmen, obwohl er nichts weiter als…ist, beschäftigt uns immer wieder und es gibt verschiedene Antworten darauf. Eine könnte sein:

Die „Perspektive“ ist unsere menschliche im weitesten Sinne. Wir reagieren artspezifisch auf ein eingespeichertes Schema. Schon die Vergrößerung der süßen Nase im Kosmetikspiegel lässt das Schlüssel-Schloss-Prinzip haken, und am Schmachten eines Hengstes nach der schönen Stute nehmen wir nicht oder kaum teil.

Das eingespeicherte Bild (aber wer findet das und wo?) scheint etwas mit der Fähigkeit entsprechend proportionierter Individuen, in der Wildnis überlebensfähigen Nachwuchs hervorzubringen zusammenzuhängen.

Aber jede solche Antwort ist doch irgendwie halb.
 
Eine Chance mehr für den Dichter, dieses „Wie kann es sein?“ weiter auf seine Weise zu feiern.

Chapeau von gummibaum

Erich Kykal

Re: Perspektive
« Antwort #2 am: Februar 09, 2022, 18:09:34 »
Hi Gum!

In diesem Zusammenhang interessant ist das Phänomen des Fetischismus und anderer Spielarten der sog. "Perversion". Offenkundig lässt sich der Trigger für erotisches Begehren auch sozusagen "artfremd" ausrichten. Man rätselt nach wie vor, wann welche Schlüsselreize zu solchen Prägungen führen.

Das System scheint jedenfalls reichlich fehleranfällig zu sein, sonst gäbe es keine Schwulen und Lesben, keine Fußfetischisten oder Kinderschänder, kein Sex mit Tieren oder Leichen, usw ... - obwohl die beiden Letzteren meist aus einer präkären Mangelllage resultieren.
Sogar unbelebte Gegenstände können zu Auslösern der Lust werden, wie auch immer, auch wenn sie sich meist herleiten, wie zB. der Schuhfetischist vom Fußfetischisten, oder der Lack- und Lederfan vom "mitteilsamen Verpacken" des eigentlichen "Geschenkes".

Die Bilder, die die Lust erleuchten,
die Seele innerlich befeuchten,
sind meistenteils sehr anatomisch,
von Güteklasse astronomisch,
und fern der kargen Wirklichkeit -
drum finden sie uns stets bereit!

 ;) ;D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Perspektive
« Antwort #3 am: Februar 10, 2022, 10:27:34 »
Ein weites Feld, lieber Erich, das sich rund um die Norm auftut. Der Ausdruck „pervers“ wird zum Gück langsam aus dem Verkehr gezogen.

Das kleine Gedicht ist hübsch: Ja, es gibt so einiges, das helfen kann, mit der kargen Wirklichkeit zurechtzukommen.

LG g

Erich Kykal

Re: Perspektive
« Antwort #4 am: Oktober 05, 2022, 00:45:06 »
Hi Gum!

Das ist es ja: Du selbst entscheidest, ob deine Wirklichkeit karg ist oder fantastisch. Erotik oder reine Biologie? alles nur eine Frage der Perspektive in unseren Köpfen. Wir selbst machen uns die Welt erlebenswert - oder trübsinnig.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.