Autor Thema: Wir in uns  (Gelesen 4770 mal)

Eisenvorhang

  • Gast
Wir in uns
« am: Mai 23, 2020, 15:39:24 »
Ich wäre alt! Mein Spiegel spricht die Klage,
und lange jung sei, wen das Jungsein stillt.
Doch zögen durch mich durch die alten Tage,
ich wär, die Schuld zu büßen, frei gewillt.

Denn all die Schönheit, welche dich umzittert,
mein Herz bekleidend, trägt sie mich dir zu,
es schlägt in beider Brüste so erbittert:
Wie kann ich denn nur älter sein als du?

Gib acht, mein Liebstes, ja, dies sag ich dir,
ich will dergleichen heute für dich sein;
sehr zart umsorge ich dein Herz in mir,
wie Ammen schützend ihre Kinderlein.

Und hoffe nicht aufs Herz, wenn meins erschlagen,
du gabst mir deins, nun musst du es ertragen.

Sufnus

Re: Wir in uns
« Antwort #1 am: Mai 23, 2020, 21:52:41 »
Hey!
Es ist wirklich schön, dass Deine wunderbare Version für sich hier steht und unabhängig von meinem Versuch kommentiert werden kann. Die Begeisterung auf Poetry ist völlig gerechtfertigt: Sehr sehr sehr schön hast Du das Spiel von Ich und Du der beiden Liebenden besungen. In meiner Vorstellung sind die beiden Liebenden bei Dir übrigens noch etwas "frischer" zusammengekommen als in meiner Fassung... bei Dir sind Ich und Du (so stelle ich mir das vor) noch etwas weniger mit einander verwachsen als in meinem Angang und aus dieser noch etwas erkennbareren Abgrenzbarkeit ergibt sich in Deiner Variante eine (finde ich) größere erotische Spannung.
Sehr sehr gerne gelesen, wir sollten uns noch bei Gelegenheit das ein oder andere Sonett vom guten Will vornehmen... er hat bestimmt nix dagegen! :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Wir in uns
« Antwort #2 am: Mai 23, 2020, 23:58:12 »
Hi EV!

Deine erste Version fand ich irgendwie charmanter, griffiger. Diese hier ist nicht schlecht, aber persönlich gefiel mir die andere von Fluss und Sprachklang her etwas besser. Vielleicht könntest du sie hier zitieren oder oben gegenüberstellen.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wir in uns
« Antwort #3 am: Mai 24, 2020, 08:57:22 »
Hallo Sufnus, Erich,

es freut mich, lieber Sufnus, wenn du siehst, dass es gefruchtet hat. Mir gefällt die Version zwei auch, ich bin fast zufrieden. :)
Einwas noch: Ich wollte deinen Thread damit nicht beladen, falls dies für dich ein Problem war, tut es mir leid und werde künftig davon absehen. :)

Okay, Erich, hier ist das Gestell der Rohfassung:

Ich bin nicht alt, nur weil ich Brillen trage.
Solange dich der Jugend Frühling stillt.
Doch zögen durch mich durch die alten Tage,
ich wär, die Schuld zu büßen, frei gewillt.

Denn all die Schönheit, welche dich umgibt,
ist wie ein Kleid um meines Herzens Blüte,
die jeden Winter kennt und ihn vergibt,
was zählt das Alter? Zählt nicht ihre Güte?

Gib acht, mein Liebstes, ja, das sag ich dir,
ich will dasselbe heute für dich sein;
sehr zart umschließe ich dein Herz in mir,
wie Ammen schützend ihre Kinderlein.

Und hoffe nicht aufs Herz, wenn meins erschlagen,
du gabst mir deins, nun werd ichs ewig tragen.

Sufnus

Re: Wir in uns
« Antwort #4 am: Mai 24, 2020, 10:09:48 »
Hi EV!
Aber nein... ich hab mich wirklich sehr gefreut, dass Du Deine wunderschönen Zeilen in Deinem Kommentar mit uns geteilt hast, von Belastung kann gar keine Rede sein, ganz im Gegenteil! :) Ich meinte nur, es wäre schön, wenn Dein Gedicht auch zusätzlich in einem eigenen Thread für sich stehen und leuchten kann. :)
VLG! :)
S.

gummibaum

Re: Wir in uns
« Antwort #5 am: Mai 24, 2020, 11:58:14 »
Lieber Eisenvorhang,

wenn die gegenseitige Herzspende dazu führt, dass jeder danach zwei Herzen besitzt, kann der Chirurg nur Liebe sein. Coronale Übereinstimmung  nivelliert den Altersunterschied ganz gut. Aber "ertragen" in der Erstfassung deutet auch Tragik an.

Sehr schön geschrieben.
LG gummibaum

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wir in uns
« Antwort #6 am: Mai 24, 2020, 18:03:25 »
Hey gummibaum,

die coronale Übereinstimmung hinterließ in mir ein großes Schmunzeln!  ;D
Ich bedanke mich für deinen Kommentar!

vlg

EV

gummibaum

Re: Wir in uns
« Antwort #7 am: Mai 24, 2020, 18:29:55 »
Aus cardial wurde coronal. So infiziert bin ich schon. 
« Letzte Änderung: Mai 24, 2020, 19:17:52 von gummibaum »

Agneta

  • Gast
Re: Wir in uns
« Antwort #8 am: Mai 25, 2020, 12:11:46 »
Ich wäre alt! Mein Spiegel spricht die Klage,
und lange jung sei, wen das Jungsein stillt.
Doch zögen durch mich durch die alten Tage,
ich wär, die Schuld zu büßen, frei gewillt.

Denn all die Schönheit, welche dich umzittert,
mein Herz bekleidend, trägt sie mich dir zu,
es schlägt in beider Brüste so erbittert:
Wie kann ich denn nur älter sein als du?

Gib acht, mein Liebstes, ja, dies sag ich dir,
ich will dergleichen heute für dich sein;
sehr zart umsorge ich dein Herz in mir,
wie Ammen schützend ihre Kinderlein.

Und hoffe nicht aufs Herz, wenn meins erschlagen,
du gabst mir deins, nun musst du es ertragen.

Lieber Ev,
Ich hatte mal eine gute Musenfreundin, die pflegte immer von Verschlimmbesserungen zu sprechen. Die erste Version war authentisch, klar.
Diese neue wirkt auf mich gekünstelt, zudem vom Wortsinn her unglücklich und ungediegen. Lange jung sei, wen das Jungsein STILLT. Sagt mir nichts. Das Jungsein kann nicht stillen...
Schönheit, die umzittert- wieso zittert sie und dann noch um. Entweder ist jemand schön oder er ist es nicht.
Überhaupt ist das mit den beiden Herzen nicht so meins. Erinnert mich irgendwie an eine Herztransplantation.
Bitte nicht böse sein, aber hier wurde zuviel rumgefingert am Werk. Und nicht gerade stilvoll...
Sorry und lG von Agneta

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wir in uns
« Antwort #9 am: Mai 25, 2020, 12:22:45 »
Hallo Agneta,

Ja, daran habe ich gefeilt und etwas in die Trickkiste der Sprache gegriffen und mit Bildern gespielt, die ein Resultat einer fremden Wahrnehmung zum Ausdruck bringen sollen.
Shakespear selbst schrieb nicht linear, oft zerworfen, geprägt von einer großen Sensibilität... Und ich fragte mich schon, wie ich das in einer adäquaten Form unserer Zeit transformieren soll.
 
Lyrik ist für mich schon lange nicht mehr nur das "Entweder ist jemand schön oder er ist es nicht." oder eine Gerade, die von bekannten Variablen definiert wird.
Für mich ist alles viel diverser und viel weniger 0 und 1. Es ist ein Irgendwo im Dazwischen und hin und wieder auch ein Darüberhinaus.

Ich verändere gerne, teste, drehe und schöpfe und hin und wieder gelingt etwas und dann wieder misslingt etwas. Ich schätze das sind Stufen des Schaffens und Weiterentwickelns... Aber, und mir ist das hier wichtig zu erwähnen, dass ich die geschliffene Form sehr mag.
 
Daran ändert Deine Kritik, die ich mir natürlich zu Herzen nehme, ausnahmsweise mal nichts. :-)

Ich danke Dir liebe Agneta!

vlg

EV

Sufnus

Re: Wir in uns
« Antwort #10 am: Mai 25, 2020, 12:33:48 »
Ich springe hier - unbenommen Deines durchaus sogar nachvollziehbaren Geschmacksurteils, liebe Agneta - eher unserem EV bei und favorisiere seine Version 2. Wie EV schon andeutet, ist ja Shakespeare in seiner Sprache und Gedankenführung durchaus "verschwurbelt", was auch dem Stil der Zeit entsprach und bis auf die heutige Zeit (wenn man sich darauf einlässt) zum "Unterhaltungswert" seiner Werke beiträgt. Wenn die verwickelten Gedankengänge eines Shakespeare-Monologs auf der Bühne ordentlich "con brio" dargeboten werden, schwirrt mir regelmäßig der Kopf (auf eine gute Weise! ;) ). Ich denke, EV hat dieses Spezifikum in seiner zweiten Übersetzung besser "rübergebracht" als in der ersten Fassung, die viel "klarer" ist (deshalb verstehe ich, warum sie Dir besser gefällt!), aber m. E. weniger nah am Original. :)
LG!
S.

Agneta

  • Gast
Re: Wir in uns
« Antwort #11 am: Mai 25, 2020, 12:34:42 »

nein, Sufnus, ich favorisierte die "Rohfassung!. GGG

ich verstehe schon, dass du, lieber EV, mit Sprache spielen möchtest, poetischer schreiben. Doch müssen die Bilder , Metaphern, auch logisch sein.
Bitte nimm es mir nicht übel, vielleicht habe ich es etwas harsch angemerkt, weil ich mich eigentlich darüber geärgert habe, dass hier schon wieder Poetry erwähnt wird.
Erlaubt mir, bei allem Respekt und unserer freundschaftlichen Musenkommunikation, die ich sehr schätze, eines zu sagen:

Wir sind hier ein eigenständiges Forum, ein kleines, das sich auszeichnet durch empathische und kollegiale Umgangsformen. Dies halte ich für wertvoll. Poetry, dieses Forum, habe ich kennengelernt mit gerade gegenteiligen Autoren, von denen sich die meisten weder durch fundiertes Fachwissen, noch durch neutrales und empathisches Lesen und Kommentieren darstellten. Im Gegenteil: tiefsinnigere Gedichte hat dort niemand verstanden. Und fast jeder hatte reichlich damit zu tun, sich aufzublasen.
Ob diese Leute dann gute oder hilfreiche Kritik geben können, scheint mir zweifelhaft.
Ihr Gedankengut  und ihre Attitude haben hier nichts verloren. Wir sind ein eigenes Forum und das wollen wir auch bleiben, denke ich. Ich kann mich weiterhin nicht daran erinnern, dass unsere gute Gründerin, Cyparis, eine besondere Vorliebe für Poetry gehegt hätte.
Lasst uns hier WIR bleiben.

LG , aber das musste mal raus. von Agneta
« Letzte Änderung: Mai 25, 2020, 12:36:40 von Agneta »

Erich Kykal

Re: Wir in uns
« Antwort #12 am: Mai 25, 2020, 12:39:11 »
Ich bin bei Agneta (auch wenn ich es netter zu formulieren versuchte, aber ich schätze ihre Offenheit), hab's ja zuvor schon gesagt, deshalb war EV ja auch so nett, die 1. Version ebenfalls hier einzustellen, wenn auch leider in einem Kommi und nicht ganz oben.

Ich halte die 1. Version für sprachlich runder und in der inhaltlichen Formulierung homogener, kurz: für das gelungenere Gedicht. Aber das ist nur ein subjektives Geschmacksurteil ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Wir in uns
« Antwort #13 am: Mai 25, 2020, 12:40:58 »
Aber so viel war doch vom pösen P jetzt gar nicht die Rede, Agneta oder? Und manchmal reden wir ja auch von Dotcom oder dem Eiland oder oder... dadurch hören wir ja nicht auf, die "Wiese" zu sein, finde ich. :)

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wir in uns
« Antwort #14 am: Mai 25, 2020, 12:52:07 »
Liebe Agneta,

alles gut, ich sehe und verstehe den Kern deiner Kritik und weiß ihn durchaus zu schätzen.

Nehmen wir mal das kritisierte "stillt". Was steckt denn alles in dem Wort?

Ein Kind stillen. Die Stille. Die Stillen. Gestillt. Verstillt. Entstillt. Kann man eine Zeit verstillen? Ja, was macht man jetzt mit all den Möglichkeiten? Vielleicht ist dieses Wort sogar ein Neologismus?
Vielleicht bleibt man, um es mit deinen Worten zu sagen, an "Logikfehlern" erstmal hängen.

Aber es ist nicht so, dass ich mir dabei nichts gedacht hätte. Denn für meine Verhältnisse floss in das Werk recht viel Zeit und Überlegung hinsichtlich Satzbau und Wortschöpfung.
Das Gleiche gilt für umzittern: Weißt du eigentlich wie mächtig das Wort "Zittern" ist und auf wie viele Weisen es sich anwenden lässt?

Das beginnt bereits bei einer simplen Begegnung, welche von Ehrfurcht oder voller Schönheit durchzittert sein kann. Wenn wir empfinden, was kann denn alles zittern?
Hier gilt es gründlich nachzudenken.
Das erregte Licht einer Kerze ist auch ein Umzittern. Ich könnte das endlos, und vor allem ins Abstrakte, fortführen.
Natürlich verstehe ich die Einwände der Kritiker, in mir leben aber recht viele Seiten Lyrik zu begegnen, das betrifft vor allem auch das Lesen fremder Lyrik.

Rilke beispielsweise war für mich nicht nur von Glauben durchdrungen, sondern auch von Rebellion und Zweifel Gott gegenüber.
Das Gleiche gilt für Schiller, der in meinen Augen der erste wahre expressionistische Dichter war. Was der Schiller geschillert hat ist einfach Wahnsinn.
Oder Kästner! Viele sagen Kästner sei der Rationale schlecht hin, der derart rote Fäden aus Glas spinnen konnte wie kein anderer.
Ich widerspreche hier. Oder der Hammer ist auch Stephan Zweig! Der hat sich auch völlig gehen lassen.

All diese Gedanken sind Dinge, die mich extrem anziehen was das Schreiben betrifft.
Ich persönlich mag keine Gedichte und wenn dann nur seltener, die einer gerade Linie folgen. Sie liest man und was dann? Man hat sie gelesen!
Dann greift man zum nächsten Gedicht. Ich mag Gedichte die aufreiben und an denen ich hängen bleiben kann und mein Ziel ist es irgendwann zeitgenössisch genau solche Werke schaffen zu können.

Und wegen Poetry, liebe Agneta. Poetry ist da drüben und die Wiese ist hier.
In dem Forum ist sowieso nicht mehr so viel Bewegung wie vor drei Jahren. Hier gibt es keine destruktiven Charaktere und wenn, dann auf eine sympathische Art und Weise.

:)

Schlussletztlich ist es auch eine gute Übung für mich (Zum eigenen Werk zu stehen). Denn Geschmäcker sind verschieden und davon lebt die Lyrik!
Erich und Du mögen die Version nicht, es gibt aber auch Leser, die diese Version sehr schätzen. Tja, was macht man dann als Autor? Ich denke, es wäre klug von beiden Seiten zu profitieren.

vlg

EV
« Letzte Änderung: Mai 25, 2020, 13:23:34 von Eisenvorhang »