Autor Thema: Verteidigung des Abendlandes  (Gelesen 744 mal)

AlteLyrikerin

Verteidigung des Abendlandes
« am: Mai 18, 2021, 14:07:43 »
Das nackte Elend
steht
kurz vor unserer Tür.

Wir verstärken
die Schlösser.

Die Meere,
einst Pfade
ins Unbekannte
für Entdecker,
Forscher,
Glücksritter,

heute Burggräben
gegen das Anbranden
der Elenden,
die neuen Hunnen.

Das Böse
ist ein Zuviel
des Guten,
auf das nur wir
ein Anrecht haben.

Erich Kykal

Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #1 am: Mai 18, 2021, 17:00:10 »
Hi, AL!

Genialer Schlusssatz! Besser kann man die Quintessenz der bewussten Ignoranz und des hartherzigen Wegsehens nicht auf den Punkt bringen!

Nur wenige, denke ich, glauben aber tatsächlich, dass nur sie ein "Anrecht" auf Wohlstand, Sicherheit und Freiheit hätten - die meisten treibt vielmehr die Angst, dieses Zustandes verlustig zu gehen.
Und was tun sie, damit das nicht passiert? Sie werfen sich jenen rechten Extremisten an den Hals, die dein Schlusssatz exakt beschreibt, die nur zu gern Erhaltung versprechen - allerdings meinen: nur für sich selbst. Alle anderen haben dann nur noch zu gehorchen und zu funktionieren iim neuen totalitäten System, das ängstliche Idioten wieder mal überhaupt erst möglich gemacht haben!  ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #2 am: Mai 18, 2021, 18:05:27 »
Liebe AlteLyrikerin,

ein Gedicht, dass das Unrecht verdeutlicht. Sehr gut!

Aber es zeigt das frühere Meer als offen und das heutige als verschlossen, als wäre die Ethik ins Gegenteil umgeschlagen. Das stimmt so nicht. 

Das frühere Meer war auch nur in einer Richtung offen und diente u.a. der kolonialen Ausbeutung und dem Sklavenhandel sowie den Seekriegen, die um diese Einnahmequellen geführt wurden. Diejenigen Länder, die damals profitierten, verteidigen heute nach wie vor ihre Privilegien in der Welt, indem sie Menschen aus den von ihnen geplünderten und politisch destabilisierten  Ländern jetzt lieber in Lager stecken oder im Meer ertrinken lassen, als sie aufzunehmen und das aus dem Geraubten Entwickelte zu teilen.

LG gummibaum


Sufnus

Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #3 am: Mai 18, 2021, 20:56:18 »
Hi AL! :)

Ja... ein Gedicht, das eine traurige Wahrheit verkündet. Und in wohlgesetzen Worten. Aber macht es sich der Text nicht ein bisschen zu einfach? Ich frage mich, wer die Stimme des Gedichts wohl ist (dass die Erzählstimme eines Gedichts nicht mit dem Autor identisch ist, kann gar nicht oft genug betont werden!).

Also: Wer klagt hier an? Es ist wohl eine(r) von "uns" - das Gedicht redet in der ersten Person Plural. Und die Erzählstimme zählt sich erkennbar zu den Schuldigen, also zu uns allen, die den Wohlstand so sehr zu schätzen wissen (hoffentlich!) und ihn nicht mit der anderen Hälfte der Welt zu teilen bereit sind, wohl wissend, dass dann vom Wohlstand nicht mehr allzuviel übrig bliebe. Diese Positionierung der Erzählstimme ist der entscheidende Unterschied zu dem Gedicht, das gum hier kürzlich eingestellt hat und das ganz bei dem ertrunkenen Flüchtlingskind war und bei dem niemand "von uns" gesprochen hat.

Welche Konsequenz zieht aber nun die anklagende Stimme des Gedichts von Dir, liebe AL, aus den ganz richtig erhobenen Vorwürfen? Hier bleibt das Gedicht die Antwort etwas schuldig und  der Leser muss selbst entscheiden: Ist da Scheinheiligkeit oder Ratlosigkeit am Werk? Ich plädiere selbstredend für Letzteres. Wer Dich aber nicht "kennt", liebe AL (sprich andere Texte und Kommentare von Dir) und um Deine Redlichkeit weiß, wird an diesem Punkt womöglich weniger eindeutig sein und den Text mit Gründen ablehnen.

LG!


S.

Agneta

  • Gast
Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #4 am: Mai 19, 2021, 12:26:44 »
ich bin dankbar, liebe AL , dass Sufnus so wohlö gewählte Worte gefunden hat.... Wir müssen die Menschen auch integriert bekommen und am zunehmenden Semitismus ( und anderen Problemen)sieht man , wie schwierig es ist, so viele Völker, die nun bei uns in diesem Land Heimat finden wollen, unter einen Hut zu bekommen... LG von Agneta

AlteLyrikerin

Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #5 am: Mai 19, 2021, 13:51:03 »
Herzlichen Dank Euch allen für die Kommentierung!

@Erich:  Vielen Dank für die Zustimmung. In der Tat sind es vorwiegend die rechtesten Kreise, die hier Angst schüren und Angst für ihre
             inhumanen "Lösungen" nutzen wollen. Zwar hat Agneta zu Recht auf berechtigte Ängste vieler Menschen hingewiesen, die gewiss nicht den Faschisten zuzurechnen sind, aber der Rechtspopulismus nutzt die Massenflucht aus den ärmsten und von Krieg heimgesuchten Ländern ungehemmt für seine Propaganda.
Was macht die Politik? Sie zahlt Milliarden an solche Diktatoren wie Erdogan, nur um als Gegenleistung die Beihilfe zur Abschottung Eurpopas einzukaufen. Sie duldet Elendslager, die jeder Menschlichkeit Hohn sprechen und schickt ihre Schiffe (Frontex) vorgeblich um Schleuserkriminalität zu unterbinden, faktisch aber werden Flüchtlinge zurück getrieben, z.B. an die lybische Grenze. Seenotretter werden als Kriminelle behandelt.

@gummibaum:  Den historischen Hintergrund, den Du beschreibst, setze ich unter Gebildeten als bekannt voraus. Es ist nicht meine Absicht mit
                        den Versen die frühere Freiheit der Meere zu besingen. Es geht mir darum, dass die Meere, die in der Tat auch früher nicht für alle "frei" und Reichtum bringend waren, zur Abschottung der europäischen Grenzen benutzt werden, wobei in zynischer Weise der Tod von Menschen in Kauf genommen wird, die zu Hunderten ertrinken. Diese unglaubliche Haltung der Politik im wohlhabenden Europa soll durch das Gedicht herausgestellt werden und als nicht hinnehmbar benannt werden. Zudem ist es historisch erwiesen, wie Du selbst heraus gearbeitet hast, dass unsere "Überlegenheit", unser Reichtum, sich nicht nur unserer Tüchtigkeit unserem Fleiß verdankt, sondern zum Teil eben auch der systematischen Ausbeutung der Länder, aus denen die Menschen nun fliehen. Bis heute arbeiten wir mit korrupten Politikern zusammen, Hauptsache, es entstehen daraus gute Geschäfte für uns. So wie wir auch zu den großen Waffenlieferanten zählen, die in den militärischen Konflikten eingesetzt werden, vor denen die Menschen dann fliehen müssen.

@Sufnus:  Wenn ich dich richtig verstehe, dann meinst Du, das "wir" des Gedichtes mit seiner moralischen Anklage, das andererseits keine
                Antworten auf die aufgeworfenen Fragen liefert, würde die poetische Qualität des Textes sehr mindern.
Das lyrische Ich sieht sich als "wir" historisch wie auch aktuell als Teil der Probleme, vor denen die Menschen fliehen. Es könnte ein ganzes Essay geschrieben werden oder auch ein Sachbuch, die belegen würden, dass "wir" in der Tat, ob wir wollen oder nicht, durch die wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen verwoben sind mit dem Elend, vor dem die Menschen verzweifelt fliehen. Wenn wir z.B. ein textiles Schnäppchen kaufen, ohne uns zu fragen, ob die Herstellung in den Billigstlohnländern unter fairen Bedingungen geschieht, dann profitieren wir von der Armut der Produzenten.
Ja, das lyrische Ich, wie auch die Autorin, können keine Lösung vorweisen. Ist es darum schon opportun einen Text abzulehnen, der auf das tödliche Drama und das Unrecht vor unseren Grenzen hinzuweisen versucht? Ich denke, das würde wiederum auf eine zynische Konstruktion hinauslaufen. Nur wer eine Lösung parat hat, darf gegen eine Menschenrechtsverletzung demonstrieren.

@Agneta:  Ja, die Integration fremder Kulturen, ist sehr schwer zu leisten. Aber sie ist möglich. Dafür kenne ich persönlich Beispiele. Sie gelingt aber nicht da, wo Menschen kaserniert werden, keine Arbeitsmöglichkeiten haben und kaum Kontakt zu der Gesellschaft, in die sie hineinwachsen möchten.
Ich denke auch nicht, dass wir alle Flüchtlinge aufnehmen können. Die Flüchtlingsursachen zu bekämpfen, kann aber nicht heißen, Alibigelder an Politiker in korrupten politischen Systemen auszuzahlen. Die Gelder müssten viel mehr in sinnvolle Projekte fließen, z.B. über NGOs. Schuldenerlasse und faire Weltmarktpreise für die Produkte von Entwicklungsländern wären auch eine gute Sache, denke ich. Früher war ich der Meinung, Entwicklungshilfe, die aus unseren Steuern gewährt wird, käme wirklich der Entwicklung in den ärmsten Regionen zugute. Doch durch Recherchen habe ich erfahren müssen, dass z.B. große Konzerne Gelder aus diesem Topf erhalten, dafür, dass sie menschliche Arbeitsbedingungen gewähren, was sie meiner Meinung nach ohnehin tun sollten und tun könnten. Es würde ihre Gewinne nicht auffressen sondern nur geringfügig absenken!

Die Kommentare zeigen, meiner Meinung nach, dass der Text eigentlich genau das tut, wofür ich ihn geschrieben habe. Er provoziert Fragen und hoffentlich auch Nachdenken über das Elend, dem wir zuschauen, als ginge es uns nichts an.

Herzlichen Dank nochmals Euch allen, AlteLyrikerin.
               


Sufnus

Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #6 am: Mai 19, 2021, 20:40:28 »
Hi AL! :)

Da reden wir, fürchte ich, ein bisschen aneinander vorbei... ;)

Zitat von: AlteLyrikerin
@Sufnus:  Wenn ich dich richtig verstehe, dann meinst Du, das "wir" des Gedichtes mit seiner moralischen Anklage, das andererseits keine
                Antworten auf die aufgeworfenen Fragen liefert, würde die poetische Qualität des Textes sehr mindern.

Von der "poetischen Qualität" habe ich diesmal überhaupt nicht gesprochen - wo hast Du das aus meinen Anmerkungen herausgelesen? Mir ging es um den Aspekt der Redlichkeit.

Der Text ist, aufgrund der Abfassung in der 1. Person Plural eine Selbstanklage - die Erzählstimme zählt sich mit zu denjenigen, die moralisch verwerflich handeln.

Eine Selbstanklage impliziert, wenn sie nicht in bloße Fassade sein soll, aber normalerweise (auf die Ausnahme komme ich weiter unten) auch ein gewisses Gelöbnis zur Besserung oder zur Wiedergutmachung oder zur Sühne. Eine Selbstanklage, der all dies fehlt, steht leicht auf dem Prüfstand, was wohl die Motivation dabei sein soll. Krokodilstränen also? Mit anderen Worten: Heuchelei?

Und da kommen wir zur gewichtigen Ausnahme: Eine Selbstanklage ohne Inklusion eines positiven Ausblicks kann dann mehr sein, als der bloße exhibitionistische und billige Versuch einer Selbstrechtfertigung, bei der sich ein Täter qua Selbstgeißelung in wohlfeilen Opferpelz kleidet, wenn diese Selbstanklage in der Tradition der sokratischen Aporie als erster Schritt des Erkenntnisgewinns aufzufassen ist: Ich weiß, dass ich nichts weiß - ich bin ratlos und habe keine Lösung - bitte hilf mir!

Diesen Schritt zur Erkenntnis aus der Einsicht in die eigene Ratlosigkeit unterstelle ich Dir, liebe AL, und das lässt den Text in positivem Licht erscheinen. Aber, wie ich schon sagte, wer nichts weiter von Dir weiß und nur auf die Lektüre dieses einen Textes zurückgeworfen ist, mag das Gedicht leicht ungut auffassen.

Zitat von: AlteLyrikerin
Ja, das lyrische Ich, wie auch die Autorin, können keine Lösung vorweisen. Ist es darum schon opportun einen Text abzulehnen, der auf das tödliche Drama und das Unrecht vor unseren Grenzen hinzuweisen versucht? Ich denke, das würde wiederum auf eine zynische Konstruktion hinauslaufen. Nur wer eine Lösung parat hat, darf gegen eine Menschenrechtsverletzung demonstrieren.

Aus meinen obigen Ausführungen wird hoffentlich jetzt klarer, dass ich die von Dir unterstellte Position keineswegs einnehme. Ich denke an den Schlusstext eines Größeren, den ich auszugsweise zitieren will:

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß.
...
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
...
Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein.
Das kam schon vor. Was könnt die Lösung sein?
Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis' dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!

« Letzte Änderung: Mai 19, 2021, 20:43:01 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Verteidigung des Abendlandes
« Antwort #7 am: Mai 23, 2021, 16:51:44 »
Lieber Sufnus,

herzlichen Dank für Deine Erläuterungen. Deinen Standpunkt kann ich jetzt besser nachvollziehen. Aber ich teile ihn nicht ganz und gar. Du sagst, der Text berge die Möglichkeit in sich als
Zitat
der bloße exhibitionistische und billige Versuch einer Selbstrechtfertigung,
gelesen zu werden. Nur die Kenntnis der Autorin aus ihren Äußerungen verhindere diese Interpretation.
Zum einen denke ich, der Text muss, ohne Kenntnis des jeweiligen Autors, für sich sprechen. Wie er gelesen und aufgenommen wird, ist nun die Freiheit der Interpretation.
Warum kann er nicht gelesen werden als das Bekenntnis eines lyrischen Ich, das um ein nicht tolerierbares Unrecht weiß, und gleichzeitig erkennt, dass es selbst Bestandteil der gesellschaftlichen Strukturen ist, die das Unrecht erzeugen und dulden? Ich denke, diese Lesart liegt immerhin im Bereich des Möglichen. Die letzten Zeilen weisen ja durchaus auf eine Lösungsmöglichkeit hin: weniger vom Zuviel, mehr Teilhabe für die Benachteiligten. Ich kann Deine Meinung zur Kritikwürdigkeit des Textes durchaus so stehen lassen und darüber nachdenken, wie ich dieses Thema, das mir sehr am Herzen liegt, besser darstellen könnte.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.