Autor Thema: Der kleine Judas  (Gelesen 424 mal)

hans beislschmidt

Der kleine Judas
« am: Dezember 19, 2020, 10:00:00 »

Der kleine Judas

Er schleicht sich gern von hinten an,
umfasst ganz fest den schweren Stein,
schon lange gärt ein kalter Plan,
der stetig pocht in diesem Sein.

Nun ist der wahre Zeitpunkt da,
"den Bruder endlich hinzustrecken",
denn was vorm Hahnenschrei geschah,
wird man beim Krähen nicht entdecken.

Den Menschen ist es wohlbekannt,
in allen Kreisen wohnt Verrat.
Auch Kain und Abel: Blutsverwandt -
das kümmert keinen Psychopath.


Erichs Version
+++++++++++
Alte Version

Der kleine Judas

Er schleicht sich gern von hinten an,
umschließt ganz fest den schweren Stein,
schon lange schwelt ein Mörderplan,
der stetig pocht in diesem Sein.

Nun ist der wahre Zeitpunkt da,
"den Bruder endlich niederstrecken",
denn was vorm Hahnenschrei geschah,
wird man beim Krähen nicht entdecken.

Den Menschen ist es wohlbekannt,
in allen Kreisen lauert der Verrat.
Auch Kain und Abel waren blutsverwandt, 
das kümmert keinen Psychopath.
« Letzte Änderung: Dezember 20, 2020, 16:07:19 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Erich Kykal

Re: Der kleine Judas
« Antwort #1 am: Dezember 19, 2020, 10:58:57 »
Hi Hans!

Warum "kleiner" Judas? Das suggeriert Kindlichkeit oder zumindest mangelnde Körpergröße, weniger die möglicherweise angedachte Kleinheit des Herzens. Auf wen genau spielt der Text an? Ich hoffe, da ist kein judenverachtender Kontext im Spiel - und du meinst jemand Speziellen, in dem du einen Verräter siehst.

Formale, stilistische und metrische Glättung mit durchgehend vierhebigen Versen:

Er schleicht sich gern von hinten an,
umfasst ganz fest den schweren Stein,
schon lange gärt ein kalter Plan,
der stetig pocht in diesem Sein.

Nun ist der wahre Zeitpunkt da,
"den Bruder endlich hinzustrecken",
denn was vorm Hahnenschrei geschah,
wird man beim Krähen nicht entdecken.

Den Menschen ist es wohlbekannt,
in allen Kreisen wohnt Verrat.
Auch Kain und Abel: Blutsverwandt -
das kümmert keinen Psychopath.


S1Z2 - Das verkürzt die Zeile optisch und weist eindeutiger auf die Hand hin. Umschließen könnte man vieles mit vielem ...

S1Z3 - Eigentlich heißt das Wort "Mordplan", deine Version ist der Metrik geschuldet und wirkt sprachlich nicht wirklich souverän. Ich habe es durch "kalten" ersetzt, allerdings hätte dann das "schwelt" nicht mehr gepasst, also "gärte".

S2Z2 - Das so ein Satzkonstrukt vervollständigende "zu" im Verb fehlte bei dir aus metrischen Gründen. Meine Version erlaubt beides.

S3Z2, S3Z3 - Waren bei dir zu lang.


LG, eKy
« Letzte Änderung: Dezember 19, 2020, 21:37:37 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der kleine Judas
« Antwort #2 am: Dezember 19, 2020, 16:06:53 »
Du bist ein kniffliger Fall, Hans.

Manchmal denke ich, Du bist vielleicht ein Kindskopf im besten und im schlechtesten aller Sinne. Die kindliche Unbekümmertheit ("Kindermund tut Wahrheit kund") ist nicht das verkehrteste Mittel, um Politcal Overcorrectness, die zweifelsohne auch einmal in eine Art Gutgesinntheitsfaschismus umschlagen kann, wieder gerade zu rücken. Auf der anderen Seite der infantilen Medaille stehen Gefühlsroheit, Verantwortungslosigkeit und Egoismus, die - man hört das in einem Land, das Kinder zum höchsten Gut erklärt, nicht so gerne - der Kinderseele eben auch innewohnen.

Ob Du selbst nun nach den besten und schlechtesten Seiten der Kindlichkeit schlägst, muss offen bleiben. Der Bildausschnitt, den Gedichte in einem Internetforum bieten, ist viel zu klein für ein abschließendes Urteil. Aber diese Deine Zeilen sind im besten und schlechtesten Sinne der Kindlichkeit verfasst: Unschuld und Verantwortungslosigkeit. Das Ergebnis dieses explosiven Amalgams zeugt - zumal in S3 - von gutem Humanismus und wäre doch ganz problemlos im "Stürmer" abdruckbar gewesen. Unbedachtheit? Provokation? Austesten von Grenzen?
Was soll man damit jetzt anfangen? Soll man damit überhaupt etwas anfangen?
Ich belasse es mal dabei.


Der kleine Judas

Er schleicht sich gern von hinten an,
umschließt ganz fest den schweren Stein,
schon lange schwelt ein Mörderplan,
der stetig pocht in diesem Sein.

Nun ist der wahre Zeitpunkt da,
"den Bruder endlich niederstrecken",
denn was vorm Hahnenschrei geschah,
wird man beim Krähen nicht entdecken.

Den Menschen ist es wohlbekannt,
in allen Kreisen lauert der Verrat.
Auch Kain und Abel waren blutsverwandt, 
das kümmert keinen Psychopath.

hans beislschmidt

Re: Der kleine Judas
« Antwort #3 am: Dezember 20, 2020, 16:09:18 »
Mein lieber Erich, lieber Sufnus,

Zu den durchgängigen 4-Hebern ... vielen Dank dafür. Werde ich gerne übernehmen. "Mörderplan" ist auch überzeichnet.

Man liest recht viel von Spaltung innerhalb unserer Gesellschaft aber es wird spätestens DANN realitätsnah, wenn es im persönlichen Umfeld passiert.
Vor dem Hintergrund, dass Ministerpräsident Kretschmann dazu aufgerufen hat, jedes Vergehen gegenüber den Lock Down Maßnahmen bei dem Gesundheitsamt anzuzeigen und die Berliner Polizei sogar geldwerte Belohnungen für "Tips" angepriesen hat, ist das große Hallali der Denunziation eröffnet. Im Schutze der Anonymität bietet sich nun die Gelegenheit alte Rechnungen (S2) zwischen Nachbarn und Verwandten zu begleichen.

Gleich drei mal wurden in der letzten Zeit Bekannte Opfer dieser Machenschaften. Einmal haben Nachbarn meines Kumpels Klaus bei der Polizei angerufen und angezeigt, dass vor dem Haus zwei Autos mit "fremden" (IGB) Kennzeichen standen und man solle mal nachforschen wieviel Personen sich in dem Haus aufhalten. Ein anderes mal war es sogar die eigene Cousine, die bei der Polizei angerufen hat.

Was will uns das sagen? Heinrich Manns Untertan war nie verschwunden, feiert als gnadenloser Hilfsblockwart (S1) fröhliche Urständ und macht auch nicht vor der eigenen Verwandtschaft halt.

Der Denunziant hat die Angewohnheit feige und hinterrücks zu operieren ( S1) und nach außen hin den Unschuldigen zu spielen, weil er Angst hat vor der direkten Konfrontation und möglichen Konsequenzen (S2). Er ist ein kleiner (Titel) Hosenscheißer, kommt nächtens (S2) von hinten und er denunziert aus einem inneren Bedürfnis heraus.

Noch nicht mal für dreißig Silberlinge, nein, er denunziert ganz umsonst seinen eigenen Verwandten (S3), obwohl er doch wissen sollte, dass, wenn seine Tat ruchbar wird, das Tischtuch für immer zerschnitten ist. Wer möchte schon gern als Kain leben und dessen Schicksal teilen?
Ich denke, das ist krank und hat mit einer tiefen Persönlickeitsstörung zu tun. Das mündet natürlich in die Frage ... "sind die Deutschen auf diesem Gebiet vielleicht leicht überrepräsentiert?"

Es ist nicht vorauszusetzen, dass jeder die zwölf Zeilen so zuordnet, wie ich sie sehe und weitere Strophen hätten mich zwar deutlicher aber sicher auch unflätiger werden lassen.

Danke für euren Kommentar und noch einen schönen Sonntag. Gruß vom Hans
Haltet Abstand - bleibt gesund - bleibt dahemm
« Letzte Änderung: Dezember 20, 2020, 18:19:38 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Der kleine Judas
« Antwort #4 am: Dezember 21, 2020, 16:00:51 »
Hi Hans!
Jetzt blick ich besser durch - danke fürs Erläutern! Eine Variation über das Thema Denunziantentum also, das in der gängigen Paraphrase, "der größte Lump im ganzen Land usw.", eines Liedes des sozialdemokratischen Dichters Max Kegel im Sprichwort verewigt wurde.
Nun... die unflätige Kontextualisierung Deiner Zeilen hätte mich durchaus interessiert!
Dir auch alles Gute und ein schöne, ruhige und Sauna-durchwärmte Zeit dehemm!
S.