Autor Thema: Kunst?  (Gelesen 589 mal)

AlteLyrikerin

Kunst?
« am: Januar 07, 2021, 14:34:29 »
Vom Maler brauch ich nicht,
was jedes Selfie kann.
Ein Inszenieren meines Seins
im Katalog der meistbietenden Möglichkeiten.

Vom Sänger brauch ich nicht
die Einladung zum Tanz,
die mir den Schritt versteift,
beim Defilee der Eitelkeiten.

Vom Dichter brauch ich nicht
das glatte Wort, das mich
in Sicherheiten wiegt.
Zerreißen muss es mich und heilen.

Erich Kykal

Re: Kunst?
« Antwort #1 am: Januar 07, 2021, 16:26:34 »
Hi AL!

Tja, die schönen Künste kommen hier nicht gerade gut weg - der Eindruck wird erweckt, alle Musentätigkeit wirke letztlich nur Verwirrung und Oberflächlichkeit, lenke vom Wesentlichen der Menschwerdung ab.

Ein Widerspruch in sich, sind diese Worte ja ausgerechnet in Gedichtform - also von einem Dichter - gegen sich selbst gerichtet.

Mit den philosophischen Wahrheiten gehe ich konform, nur dass das Kulturschaffen fast abfällig verworfen wird, geht mir gegen den Strich. aber ich respektiere den lyrischen Effekt.

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Kunst?
« Antwort #2 am: Januar 07, 2021, 19:27:15 »
Hi AL! bzw. Hi eKy! ;) :)

Ich lese das hier nicht als grundsätzlich Malerei-Musik-Literatur-kritische Einlassung (wie eKy das offenbar auffasst :) ), sondern "nur" als eine Abfuhr gegenüber einer oberflächlichen, allzu glatten und selbstverliebten Kunst, die sich weder als zugewandt noch als "engagiert" erweist.

Was AL (bzw. das LI!), einfordert ist eine Kunst, die sich zum Anwalt der Verletzten macht, also das Unschöne, Unheile und Beschädigte abbildet und die zugleich Trost spendet, Heilung ermöglicht.

Wer meine Gedichte und Gedicht-Vorlieben liest, wird sich nicht wundern, wenn ich das etwas weniger eingeschränkt sehe: Ich mag Brecht, aber ich mag auch Lasker-Schüler und Rilke (und manchmal, wenn er eine sehr gute Phase hat, sogar mal Stefan George) und ich mag Ringelnatz und Jandl und Goethe und Unica Zürn und Erich Fried (naja... so wie bei George... manchmal... ) und Monika Rinck und und und... also manchmal mag ich die sozial engagierte Literatur und manchmal die l'art pour l'art und manchmal die verspielte Artistik und manchmal die gehobene Blödelei und manchmal den hohen, pontifikalen Ton. :)

Sehr gerne gelesen und bedacht, liebe AL :)
S.

gummibaum

Re: Kunst?
« Antwort #3 am: Januar 07, 2021, 20:45:15 »
Liebe AlteLyrikerin,

über das, was Kunst ist, gehen die Meinungen ja sehr auseinander. Hier wird ein gewisse Wirkung auf den Rezipienten gefordert, nämlich, dass sie ihn auf bestimmte Weise umstrukturiert (über eine Art Katharsis). Ich glaube, dass viele heute dieser Ansicht sind, da unsere Zeit wie keine zuvor  andere Techniken präziser Reproduktion oder gezielter Verfremdung der Realität besitzt und uns damit ständig begleitet und regiert.

Gern gelesen.
Grüße von gummibaum





 

Erich Kykal

Re: Kunst?
« Antwort #4 am: Januar 08, 2021, 17:50:04 »
Hi Suf!

Für deine Deutung - so wahrscheinlich richtig sie sein mag - spricht für mich die allgemeine Anrede ohne jegliche Spezifizierung möglicherweise negativer Tendenzen der hier gemeinten Ausübenden der jeweiligen Kunstsparten. Angesprochen werden "Der Maler", "Der Sänger", "Der Dichter", nicht "Der arrogante Maler", "Der ruhmsüchtige Sänger" oder "Der eitle Dichter".
Zudem werden die beiden ersten für ihre klassische Kernkompetenz kritisiert: Für's Portraitmalen der Maler, Für's Anregen zum Tanzen der Sänger. Bestenfalls beim Dichter klingt eine Kritik für allzu beschwichtigende, zu glatte Wortkunst durch, aber das unterstellt wiederum, Dichter wären per se systemunterstützende Manipulatoren ohne Hang zu Sozialkritik - was natürlich jeglicher Realität entbehrt.

Deshalb bin ich ja auch durchaus deiner Ansicht, dass der Autor sich hier gegen schwarze Schafe der jeweiligen Sparten ausspricht - aber genau das hätte irgendwie im Text selbst untergebracht werden müssen (siehe meine Exempel im obigen Absatz), damit der gemeine Leser weiß, dass diese Anwürfe nicht verallgemeinernd auf die Gesamtheit der jeweiligen Künstlergemeinde gemünzt sind.
So ist die Formulierung potentiell missverständlich und könnte im schlimmsten Fall sogar gegen die charakterliche Integrität oder intellektuelle Kapazität des Autors gewendet werden, wenn übelwollende Elemente derlei ausschlachten wollten.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Kunst?
« Antwort #5 am: Januar 09, 2021, 14:14:09 »
Hallo Erich,

das lyrische Ich beschreibt, was es, für sich persönlich, nicht brauchen kann ("ich brauche ... nicht") in Malerei, Musik, Dichtung. Also eine rein persönliche Stellungnahme des LyrI, was für es sich nicht in der Kunst wünscht.
Herzlichen Dank jedenfalls für Deine Lesart. Es ist immer hilfreich zu erfahren, wie ein Text auch gelesen werden kann.

Lieber gummibaum,

herzlichen Dank auch für Deinen Kommentar. Den Verfremdungsaspekt in unserer Gesellschaft, der allzu gern auch die Kunst in Mithaftung nimmt, den hast du zu Recht erwähnt.

Lieber Sufnus,

Deine Interpretation entspricht sehr meinen Absichten. Herzlichen Dank dafür. Allerdings möchte ich die Vorliebe des LyrI nicht zum Dogma machen und das "nur" Schöne, geistreich Unterhaltende abwerten. Es hat zu Recht seinen Platz in der Kunst. Aber es sollte eben auch Raum für das andere sein, das von LyrI eingefordert wird.

Herzliche grüße euch allen dreien, AlteLyrikerin.

hans beislschmidt

Re: Kunst?
« Antwort #6 am: Januar 09, 2021, 14:49:20 »
Liebe AL,
Ich sitze hier noch immer kopfkratzend rum, weil ich vom "Zerreißen" nicht mehr den Weg zurück gefunden habe.
Dann halte ich mich mal an Suf ...
[<].....ist eine Kunst, die sich zum Anwalt der Verletzten macht[>] das entspricht auch meiner Einstellung.
Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

AlteLyrikerin

Re: Kunst?
« Antwort #7 am: Januar 09, 2021, 14:54:48 »
Lieber Hans,


da haben wir ja einen wichtigen Aspekt gemeinsam. Kunst muss auf der Seite der Benachteiligten, der Verletzten sein. Hoffentlich kratzt du Deinen Kopf nicht blutig.  ;D  Es gibt in einigen Gegenden die Redewendung "es zerreißt mich". Wenn jemand das sagt, muss nicht damit gerechnet werden, dass nun die blutigen Fetzten fliegen. Es geht eher um die Empfindung einer Wut oder einer Trauer bzw. eines Schmerzes, die so intensiv ist, dass es einen schier "zerreißt".
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.