Autor Thema: Poetische Texte?  (Gelesen 1036 mal)

Rocco

Poetische Texte?
« am: April 06, 2021, 23:38:31 »
Lyrikerin fragt, in einem ihrer Beiträge, wo die poetische Grenzlinie, zwischen Propaganda und Kunst, verläuft.

Ich habe drei Texte ausgesucht, von denen ich glaube, dass sie Haltung und Poesie gleichberechtigt vereinen.

Eins Vorweg: "Traditionelle Gedichte" richtet sich gegen kein Mitglied dieses Forums. Ich habe es genommen, weil ich sonst keines hatte. Zudem will ich ja Haltung zeigen.

Warum denke ich, das sei Kunst? Weil die Texte aphoristisch sind und damit den Verstand ansprechen wollen. (Gedichte peilen Gefühle an, sie wollen nicht verstanden werden.)

Erich Fried hat auch aphoristisch geschrieben, er gilt als Meister des aphoristischen Gedichts. Meiner Ansicht nach kann man, auf diese Weise, Haltung zeigen, ohne der Propaganda zu verfallen.

Ist aber nur meine Ansicht. Auf andere bin ich gespannt.

Euch einen schönen Abend

Rocco



Das Silberlicht

des Mondes
ist ein
Maul

für
grau-schwere Träume


*

Traditionelle Gedichte

sind heiße Luft
in die Ohren
der Zuhörer

denen es dabei
kalt
den Rücken

r
u
n
t
e
r

läuft

*

Der Humor liegt auf der Straße:

man hatte ihn
aus der
Stammtischgesellschaft

geworfen
« Letzte Änderung: April 06, 2021, 23:56:48 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Poetische Texte?
« Antwort #1 am: April 07, 2021, 12:46:48 »
Hi Rocco! :)

Ich bin Dir sehr dankbar, dass Du das Thema der "Poesie" so schön vertiefst. Zu meiner persönlichen, nicht formal sondern inhaltlich getriebenen Definition von "Poesie" habe ich in der Erwiderung auf ALs Text schon einiges geschrieben, weshalb ich hier lieber gleich zu Deinen Texte hüpfe! :)

Tatsächlich finde ich diese deutlich "poetisch" aufgeladen (in abnehmender Reihenfolge allerdings), da sie alle diese inhaltliche Offenheit suchen, die für mich ein wesentliches poetisches Element ist. Manch einer wird sicher sagen, dass ein so "hässliches" Wort wie "Maul" im ersten Text doch nicht poetisch sein kann, da es bei Poesie doch etwas Zartes und Schönes geht. Das ist eine Definition von Poesie, die ich so nicht teile. Für mich kann auch etwas auf den ersten Blick sehr "Hässliches" oder "Grobes" poetische Kraft entfalten, während eine glatte, oberflächliche Schönheit ohne poetischen Reiz sein mag.

Beim zweiten Gedicht bringt für mich gerade der (eigentlich ja ganz spannende) "Trick" mit der vertikalen Schreibweise von "runter" den poetischen Gehalt etwas ins Schlingern. Die Änderung der Schreibweise ist ein so starker Stimulus für mich als Leser, dass ich von diesem "runter" quasi völlig ein Beschlag genommen werden, was eine offenere Herangehensweise an den Text für mich etwas erschwert.

Und der letzte Text ist für mich persönlich etwas zu stark auf die Pointe hin konzipiert, um mich auf "poetische" Weise zu packen. Pointen haben auf mich auf diese Wirkung, dass sie einen Text "abschließen", man kommt quasi über den "Witz" gedanklich nicht mehr hinaus und findet keine zweite (dritte, x-te) Ebene. Deshalb sind typische "Witze" für mich auch niemals poetische Texte und auch bei Gedichten, die vorrangig auf die humoristische Ebene setzen, wird die Poesie für mich oft etwas angeknackst.

Letztere Feststellung soll übrigens ein Anknüpfungspunkt für den mir sehr wichtigen Gedanken sein, dass "Abzüge" auf der Poesie-Ebene einen Text keineswegs zu einem schlechten Text machen - ich liebe humoristische Gedichte ganz besonders und habe auch einiges für Witze übrig (eine mir fehlende Begabung, die ich gerne hätte, wäre es, Witze gut erzählen zu können :) ).

LG!
S.

Rocco

Re: Poetische Texte?
« Antwort #2 am: April 21, 2021, 12:22:31 »
Guten Tag Sufnus,

ich habe nicht gleich geantwortet, da ich oberflächliche Antworten hasse.

Du sprichst von einem "poetischen Reiz", ein, wie ich finde, treffender Ausdruck!

Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie man feststellen kann, ob ein Gedicht nun poetisch ist oder nicht.

Ja, man bekommt beim Lesen ein Gefühl, der Bauch sagt einem, dass das ein prima Gedicht ist. Es liest sich flüssig, die Reime passen und sind originell. Auch ist das Thema logisch aufgebaut und bringt neue Aspekte.

Mit einem Wort: Das Gedicht spricht mich, den Leser, mit poetischen Reizen an, die mir Freude bereiten.

Ich behaupte, dass jedes Gedicht, jenseits aller Klischees, poetische Reize vermitteln wird. (Dass es sprachlich durchdacht ist, setze ich voraus.)

Nun zu deiner Würdigung meiner Gedichte.

Zum ersten Gedicht:

Ich teile deine Einschätzung. Zumal das Wort Maul den Gegenpol bildet zum Mond und seinem Silberlicht. Der poetische Reiz ist das Unerwartete. Man glaubt, es ginge weiter im Sinne einer poetischen Beschreibung der Nacht. Vielleicht mit Feen und Elfen, oder Katzen, die ihren Hinterhof mit einem irren Dichter teilen müssen; aber stattdessen taucht das Maul auf. Und es verschlingt grau-schwere Träume. Die der Katzen? Des Irren oder des Lesers? Jedenfalls hat dieser Gedanke etwas romantisch-poetisches.

Zum zweiten Gedicht.

Ich mache es kurz: Ich fand den Trick mit der vertikalen Schreibweise witzig. Aber du hast Recht, er lenkt vom Gedicht ab. (Das ist mir erst nach und nach klar geworden.)

Nun das letzte Gedicht:

Lieber Sufnus, auch nach reiflicher Zeit, teile ich deine Einschätzung nicht.

Mir fällt Erich Kästner ein, dessen Gedichte pointiert sind. Ich habe (noch) keinen sagen hören, Kästner sei unpoetisch. Halt, stimmt nicht: Die Nazis haben das über ihn gesagt. Aber sie haben auch seine Bücher verbrannt. (Was hätten sie auch sonst über ihn sagen sollen?) Auch Tucholsky hat pointiert gedichtet, mit dem gleichen Ergebnis wie Kästner.

Sind Witze poetisch? Dazu müssten wir klären, welche poetischen Signale Witze haben.

Epigramme (siehe Kästner) sind poetisch, aber sicher keine typischen Witze.

Sicher gibt es Pointen, die wie ein Feuerwerk zünden und solche, die nur laut knallen und nicht mehr.

Wenn du das meinst, stimme ich dir zu: Meine Pointe knallt laut.

(Im übrigen spreche ich lieber von Pointen, das ist näher am Aphorismus/ Bonmot dran, als der typische Witz.)

Pointen finde ich poetisch, typische Witze nicht.

Soweit meine Einschätzung.

Bis dann!

Rocco

"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Poetische Texte?
« Antwort #3 am: April 21, 2021, 18:42:04 »
Hallo Rocco! :)
Ich genieße unseren Austausch sehr! Zu den Anmerkungen, die Du bzgl. Deines dritten Gedichtbeispiels gemacht hast, möchte ich gerne nochmal meine subjektive Sichtweise darstellen.

Du schreibst u. a.:

"Mir fällt Erich Kästner ein, dessen Gedichte pointiert sind. Ich habe (noch) keinen sagen hören, Kästner sei unpoetisch. Halt, stimmt nicht: Die Nazis haben das über ihn gesagt. Aber sie haben auch seine Bücher verbrannt. (Was hätten sie auch sonst über ihn sagen sollen?) Auch Tucholsky hat pointiert gedichtet, mit dem gleichen Ergebnis wie Kästner.

Sind Witze poetisch? Dazu müssten wir klären, welche poetischen Signale Witze haben.

Epigramme (siehe Kästner) sind poetisch, aber sicher keine typischen Witze.

[...]

Pointen finde ich poetisch, typische Witze nicht."

Meine Sicht ist: Erich Kästners Gedichte finde ich größtenteils nicht besonders poetisch. Ich bewundere Kästner sehr und er gehört (auch in seinen Gedichten!) zu meinen liebsten Schriftstellern, aber anstelle von Poesie (wie ich sie definiere), würde ich bei Kästner andere Qualitäten realisiert sehen:
Seine Gedichte sind für mich vor allem: Geistreich, anmutig, eingängig, prägnant, zugewandt, klar und unterhaltend. Das sind alles lauter positive Eigenschaften und dies erklärt den hohen Rang, den ich seiner Lyrik einräume - da "macht es nix", wenn ich andere Eigenschaften (wie eben das poetische Element) bei Kästner weniger finde. Ich hoffe, damit sitze ich in Deiner Einschätzung nicht mit Nazis in einem Boot - das tät mich dann doch etwas stören...
... und um gleich mit dem nächsten Namen weiter zu machen: Auch Tuchos Gedichte schätze ich überaus (vielleicht um ein geringes weniger als die von Kästner) und auch Tuchos Gedichte sind für mich eher selten poetisch (wenn auch geringfügig häufiger als die von Kästner). Wenn also Tuchos Gedichte insgesamt für mich ebenfalls etwas des Poetischen ermangeln, so find ich sie dafür: Klug, vielschichtig, anregend, originell und unterhaltend (den letzten Punkt teilen sich Kästner und Tucho, und es ist mit das Beste, was man über ein Gedicht sagen kann).
Diese meine subjektiven Urteile hängen eben u. a. mit meinem Verhältnis zur Pointe zusammen: Ich finde sie praktisch immer Poesie-verhindernd (aber häufig sehr unterhaltsam, also durchaus doch positiv). Warum ich das so empfinde hängt eben mit meiner Definition von  poetisch zusammen und jemand anderes mag dies ganz anders sehen. :)
LG!
S.

Agneta

  • Gast
Re: Poetische Texte?
« Antwort #4 am: April 22, 2021, 19:10:29 »
der dritte gefällt mir ausgesprochen gut, Rocco. ;D
Was Poesie ist, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Es gibt eine literaturwissenschaftlich-akademische Definition, die sich weitestgehend erschöpft und überlaufen hat. Ich denke , Kunst ist es auf jeden Fall... LG von Agneta

Rocco

Re: Poetische Texte?
« Antwort #5 am: April 24, 2021, 23:53:18 »
Hallo zusammen!

Danke für deinen Zuspruch, Agneta. Was gefällt, ist immer auch geschmachsabhängig. Rilke hat, ich glaube in seinen Briefen, mal gemeint, er würde bei einem Gedicht immer alle Kniffe und Tricks anwenden, die ihm einfielen (und er für nötig befände) und das Ergebnis sei fast sicher immer poetisch. Leider war diese Ansicht doch sehr optimistisch, denn auch Rilke hat schlechte Gedichte geschrieben. Ich vermute, es gibt kein poetisches Rezept a la: Man nehme... rühre um mit... und backe es bei... Grad. Und - voila: fertig ist das meisterhafte Gedicht.

Woran soll man sich halten? Am ehesten doch wohl an poetische Signale? Warum denkst du, dass deine Gedichte poetisch sind?

Lieber Sufnus, jeder hat seine An- und Einsichten, das hat seine Gründe und belebt jede Diskussion.

Mir fällt nur auf, dass man Pointen von Pointen unterscheiden kann. Es gibt die Wort- und die Sachpointe. Wortpointen sind das Merkmal von Witzen und Kalauern, zum Beispiel, wenn eine Metapher wörtlich genommen wird. Die Sachpointe ist erhellend und bietet neue Ansichten, spricht eher den Geist, als das Gefühl, an.

Für meine Begriffe ist die Sachpointe, in einem poetischen Text, zum Beispiel einem Gedicht, poetisch.

Kunst ist eben, was der Künstler daraus macht.

Euch noch einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Agneta

  • Gast
Re: Poetische Texte?
« Antwort #6 am: April 25, 2021, 09:33:21 »
poetisch ist für mich eher Lyrik,. die verbrämt ist, schöne Metaphern bringt und Stimmung erzeugt. Poesie aber, Lyrik kann auch anderes sein. ich orientiere mich da nach wie vor, auch wenn es nicht modern ist , am litertaturwissenschaftlichen Begriff. D.H. an nachweislichen Stilmitteln, die die Lyrik als solche definieren. Darum können auch Prosagedichte Lyrik sein, wenn sie Stilmittel aufweisen. Und manche sind es eben nicht, weil, sie einfach nur in Gedichtform gesetzte Prosa sind. Was man heute häufig findet bei Schreibern, die das grundsätzliche  Handwerk nicht drauf haben.LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Poetische Texte?
« Antwort #7 am: April 25, 2021, 11:28:22 »
Hi!

Für mich beschreiben die Begriffe Poesie und Lyrik nicht ein- und dasselbe.

Poesie kann in vielem stecken: in Gedichten, aber auch in Texten, Gesten, Taten, Liedern, sogar Landschaftsgestaltung. Poesie beschreibt unter anderem ein Gefühl der Erhabenheit, des Schönen auch in Dingen und Motiven, nicht nur im genutzten Wort.
Lyrik aber umfasst für mich eng nur das strukturierte Gedicht, die Literaturform in Takt und Reim. Lyrik ist eine klar definierte Ausdrucksform des (Lego-)Baukastens "Sprache", und sonst nichts.

So können Lyrik und Poesie innerhalb der lyrischen Grenzen durchaus Schnittmengen haben, aber für mich umfasst der Ausdruck "Poesie" viel mehr als "Lyrik".
Wenn man darüber spricht, sollte man sich über die Begriffsdefinition und Bedeutungsinhalte im Klaren sein, sonst kommt es zwangsläufig zu Missverständnissen. Daher dieser Einschub meinerseits. Ihr dürft die Termini ruhig anders auslegen, ich wollte nur darlegen, was für mich gilt.  ;)

LG, eKy



Am Rande empfohlen: http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=8618.0
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Poetische Texte?
« Antwort #8 am: April 26, 2021, 21:29:47 »
Hi, Ihr Lieben!
In der Abgrenzung der Begrifflichkeiten "Poesie" und "Lyrik" bin ich ziemlich nah bei eKy! :)

Lyrik ist für mich eine (u. a. auch stark formal definierte) Literaturgattung und bezeichnet kurze Texte, die sich durch eine starke subjektive "Stimme", ausgeprägt strukturierte Texte (durch Zeilenumbrüche oder klangliche wie rhythmische Elemente) und ein gewisse "Ästhetisierung" auszeichnen (der letzte Begriff ist etwas unglücklich - ich suche noch nach Besserem). Hingegen bezeichnet Poesie eine Qualität von Schönheit (neben anderen, von Poesie distinkten Schönheits-Qualitäten). Sprich: Ingrid Bergmann, Idris Elba, Chris Hemsworth und Rihanna sind allesamt (für mich) schöne Menschen, aber nicht alle vier sind (für mich) gleichermaßen auf eine "poetische" Weise schön (hier mag jetzt jeder seine eigene Zuordnung treffen). Es gibt also schöne Gedichte, die poetisch sind, und schöne Gedichte, die das eher in geringerem Maße sind. Und es gibt poetische Texte, die gar kein Gedicht, sondern meinethalben ein Roman, eine Kürzestgeschichte oder ein Tagebucheintrag sind.

Und wie bei eKy ist das mein ganz privates Verständnis, andere sollen die Begriffe gerne ganz anders gebrauchen. Es ist nur beim miteinader Reden wichtig, die Begrifflichkeiten des Gegenüber nachzuvollziehen. :)

LG!

S.