Autor Thema: Stummer Schrei  (Gelesen 426 mal)

Agneta

  • Gast
Stummer Schrei
« am: Juni 09, 2021, 08:54:08 »
Stummer Schrei

Manchmal braucht man Zeit, bis man etwas akzeptieren kann. Die Vernunft, das Pflichtbewusstsein geben einem vor, was zu tun ist. Unausweichlich. Doch die Gefühle spielen nicht mit. Bis man begreift, sich eingesteht. Die Angst niederkämpft, die einen anspringt wie ein tollwütiger Hund. Das braucht Zeit. Einfach Zeit.
Anna schiebt den Gartenstuhl ganz hinten in die Ecke des Balkons, um nicht in die grelle Sonne schauen zu müssen. Ihr Leben sollte hell sein wie der junge Tag. Ihr Mann und sie sind Rentner, es geht ihnen gut. Eigentlich.
Der kleine Hund macht allerlei Schabernack um Anna aufzumuntern. Er spürt wohl ihre Traurigkeit. Wie lieb er ist! Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Aber er wird ihr nicht helfen können.
Anna macht sich Sorgen um ihren Mann. Seit der Corona-Impfung zeigt er seltsame, ja, erschreckende Ausfälle. Er hat Probleme, Sätze zu bilden, Worte zu finden, am Gespräch teilzunehmen. Und oft befällt ihn eine bleierne Müdigkeit. Seit drei Wochen geht das so. Er scheint um zehn Jahre gealtert, obwohl er erst sechsundsechzig ist. Auch Anna ging es nicht gut nach der Impfung, aber mittlerweile hat sie sich wieder erholt.
Als sie die ersten Spuren im Bad entdeckt, hält sie es zunächst für Tropfwasser vom Händeaschen. Oder vielleicht hat der Hund…? Ein paar Tage später fügt sie dem Wischwasser Desinfektionsmittel zu und schaut im Internet nach Inkontinenzhosen für Männer. Versichert wird eine diskrete Verpackung.
Als sie sich traut, ihren Mann darauf anzusprechen, trifft sie auf denselben Blick, den sie schon von Mutter kennt. Ihrer Mutter, die sie zwei Jahre lang als Pflegefall betreut hat. Ein Blick voller Traurigkeit. Einer, in dem ungewollter Abschied liegt.
Er trifft sie wie ein Geschoss. Geht tief hinein. Bis auf den Grund. Und holt die alten Ängste hervor. Die Angst, den geliebten Menschen zu verlieren und die vor den Schuldgefühlen, alles und doch nie genug zu tun. Die Angst, irgendwann einfach keine Kraft mehr zu haben. Sich selbst nicht mehr zu spüren.
Manchmal braucht man Zeit, um etwas akzeptieren zu können. Zeit, die man nicht hat.





Erich Kykal

Re: Stummer Schrei
« Antwort #1 am: Juni 09, 2021, 12:44:16 »
Hi Agneta!

Schlimm! Ich habe zusehen müssen, wie all meine Lieben alt wurden und irgendwann starben, da ich der Jüngste in meiner Familie bin  - zumindest von den Mitgliedern, die noch miteinander reden. Meine Mutter hat meinen Vater jahrelang gepflegt, als er dank Parkinson bettlägrig und dement war, und meine Tanten habe ich oft zuletzt im Altenheim besucht, ehe sie starben.
Mir blieb zum Glück erspart, jemanden lang pflegen zu müssen, denn meine Mutter war bis zuletzt in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Nur die letzten Lebenstage habe ich sie ein wenig betreut, so lang sie noch daheim war. Allerdings weiß ich als alter Rotkreuzler und ehemaliger Zivildiener, wie unglaublich zehrend das sein kann, vor allem, wenn man dem Betroffenen emotional verbunden ist!
Von daher verstehe ich deine Ängste sehr gut.

Der Mann meiner Cousine in Hamburg starb kürzlich mit ähnlichen Symptomen - es war eine besonders aggressive Art von Parkinson.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Stummer Schrei
« Antwort #2 am: Juni 09, 2021, 15:10:09 »
Liebe Agneta,
Deinen Text habe ich erst einmal übersehen und nur dank eKys Kommentar wurde ich aufmerksam. Falls es bei der im Text betroffenen Person ein reales Vorbild gibt (ich frage mal bewusst sehr indirekt) und falls nicht schon eine umfangreiche ärztliche Diagnostik erfolgt ist: Kannst Du dann herausfinden, ob sich bei dem Betroffenen eine Veränderung, in der Art zu laufen gezeigt hat und diese womöglich zu  beschreiben versuchen?
Unabhängig davon, möge sich das reale Vorbild ganz lieb gedrückt fühlen!
LG!
S.

gummibaum

Re: Stummer Schrei
« Antwort #3 am: Juni 10, 2021, 10:59:15 »
Liebe Agneta,

hier hat die Impfung wohl mehr Schaden angerichtet als genützt.

Mit Sorge gelesen.

Grüße von gummibaum

Agneta

  • Gast
Re: Stummer Schrei
« Antwort #4 am: Juni 12, 2021, 08:51:39 »
Ihr Lieben,
ich danke euch für eure mitfühlenden Zeilen. Annas Mann ist jetzt im Krankenhaus. LG von Agneta