Autor Thema: Alba  (Gelesen 645 mal)

Sufnus

Alba
« am: Juni 26, 2021, 19:38:43 »
Alba

Lerche, Lerche, tiefes Blau,
mit des Tages Lichtverhau
pferchst du die Verliebten ein:
Dürfen keine Engel sein!

Deines Sanges Weltkassiber
widersagt dem Sternenfieber
und der Träume süßem Mohn
hoch im Nachtigallenton.



Erich Kykal

Re: Alba
« Antwort #1 am: Juni 26, 2021, 19:58:20 »
Hi Suf!

Alba steht für:

    Alba (Vorname), weiblicher Vorname
    Alba, Fluss in Tschechien, siehe Bělá (Divoká Orlice)
    Alba (Graben), Mühlengraben in Tschechien
    Alba, liturgisches Gewand, siehe Albe
    Alba (Motorrad), Motorradhersteller
        Zweisprachige Alba von Fleury-sur-Loire, lateinisches Morgenlied
    alba, lateinischer, italienischer und okzitanischer Name des mittelalterlichen Tageliedes
    Alba, schottisch-gälische Eigenbezeichnung Schottlands
    Alba (Reichskleinodien), Teil der Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reiches
    Alba (Wein), DOC-Wein aus dem Piemont, Italien


So weit Wikipedia. Ich muss nun die wahrscheinlich passendste Deutung auswählen, die zum lyrischen Text passt. Dem Text mit der Lerche, den im Lichtverhau (Tageslicht als Gefängnis?) gefangenen Verliebten, dem Sternenfieber und dem "süßen Mohn der Träume" (= berauschende Fantasie?) im Nachtigallenton, was immer das bedeuten soll, wenn es um eine Lerche geht.

Ja, sorry, aber da komm ich auf keinen grünen Zweig, weil ich schon den Text selbst nicht zu deuten vermag. Sicher alles Anspielungen, phrasierte Symbole für irgendwas, zu denen mir leider der passende Schlüssel des Spezialwissens fehlt. Und was ist nochmal ein "WeltkKassiber"?

Wiki weiß:

Ein Kassiber (Rotwelsch kassiwe, aus dem Hebräischen entlehnt, letztlich auf die auf Schrift bezogene hebräische/semitische Wurzel כ־ת־ב k-t-b zurückgehend) ist eine geheimgehaltene schriftliche Mitteilung eines Gefangenen an andere Gefangene oder aus dem Gefängnis heraus an die Außenwelt. Die Nachricht kann auch in Zeichensprache statt in Schriftform gehalten sein. In Deutschland ist die Übermittlung solcher Nachrichten gemäß § 115 OWiG eine Ordnungswidrigkeit.


Ist ein "Weltkassiber" nun ein Kassiber an die ganze Welt, oder eine geheime Botschaft, die die ganze Welt erklärt und/oder enthält? Eine Botschaft, deren Wichtigkeit die ganze Welt angeht, oder nur eine von behaupteter Weltklasse?
Und inwiefern kann der - für alle hörbare - Gesang einer Lerche eine Geheimbotschaft sein? Was ist das genannte Sternenfieber, dem besagter Gesang eines Vogels widersagt?

Solche Fragen stellen sich mir hier zu praktisch JEDER einzelnen Zeile.

Hier steh ich eindeutig auf dem Schlauch.  :-\

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juni 27, 2021, 13:27:27 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Alba
« Antwort #2 am: Juni 27, 2021, 12:40:14 »
Hi eKy!

Warum so verzagt: Du hast ja schon fast alles sehr schön aufgeklärt - jetzt musst Du interpretatorisch nur noch durchziehen. :)

Dass mit Alba eher nicht die Motorradmarke gemeint ist, scheint eine vernünftige Ausgangsmutmaßung, auch Schottland kommt etwas weit hergeholt rüber, da hier ansonsten ja keine schottischen Motive zu finden sind. Und Kassiber hast Du echt auch schon ganz gut aufgedröselt. :)

Ich denke, was Dich hemmt ist ein etwas digitales "Verständnis von Verständnis": Ich stelle mir das so vor, dass für Dich etwas entweder etwas vollkommen verständlich ist, ganz ohne weiße Flecken, oder - wenn dies nicht gilt - dass es per definitionem unverständlich ist und ein Bemühen um Teil-Entschlüsselung dann keinen Sinn ergibt, weil eine Teil-Entschlüsselung nicht besser wäre als völlige Obskurität.

Wenn ich mich in einen "normalen" Leser hineinversetzte (da dieser Leser offenbar Gedicht liest, ist er so normal nun auch wieder nicht), dann wird der bestimmt nicht wissen, was Alba sein könnte und er wird auch bei Kassiber ein Fragezeichen haben, weil er das Wort einfach nicht kennt. Auch was ein Verhau ist, wird nicht jeder wissen. Der Rest dürfte rein von der Wortbedeutung her einigermaßen klar sein, nur wird man noch bei Sinn im Dunkeln tappen.

Dann empfiehlt es sich, in dem Knäuel ein Faden-Ende zu suchen, mit dem man etwas anfangen kann und von da aus weiterzugehen. :)

Was - so denke ich - bei vielen Lesern eine Assoziation hervorrufen könnte wäre das Wortpaar Lerche - Nachtigall. eKy, als anglophiler Zeitgenosse, wirst Du da sicher auch ohne Schützenhilfe bereits eine Idee gehabt haben, aber vielleicht warst Du aufgrund der allgemeinen Dunkelheit des Textes nicht so motiviert, diesen Faden aufzunehmen? :)

Worauf ich hinauswill, das ist das doch recht gut bekannte Zitat: "Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche...". Kennen wird man es schon irgendwie - aber wo steht es nochmal? Hier könntest Du, eKy, doch bestimmt weiterhelfen, oder?

LG!

S.


Erich Kykal

Re: Alba
« Antwort #3 am: Juni 27, 2021, 13:23:48 »
Hi Suf!

Shakespeare, Romeo und Julia, Balkonszene - Romeo leugnet den nahenden Morgen, um länger bei Julia verweilen zu können. Danke. Tagelied also. Wäre der Titel gleich in Deutsch nicht hilfreicher gewesen?

Warum nicht einfach NUR deine letzte Antwortzeile oder meinen ersten Satz hier klar als Lösung mit einem einzigen Satz schreiben, wenn jemand um Erläuterung ersucht? Warum per Kommi zuerst die wohlwollende indirekte Abmahnung für die "offensichtliche verständnistechnische Beschränktheit", danach noch eine weitere inhaltliche Schnitzeljagd mit pädagogischem Sendungsbewusstsein, so als wäre der Leser ein leicht renitenter zu unterrichtender Schüler, dem unbedingt ein behaupteter Lernprozess abgerungen werden soll?
Da fühlt man sich zwangsläufig ein wenig geschulmeistert, von der beschwichtigenden Attitüde sich intellektuell überlegen Glaubender gegängelt ...

Ein näher an die erwünschte Deutung heranführender Titel wäre wünschenswert gewesen: zB "Balkonszene", "Lerche oder Nachtigall?", "O Romeo!", ...

Einen Text allzu sehr zu verklausulieren, mit zu vielen Türen zu versehen, zu denen nur bestimmte Leser ad hoc die passenden Schlüssel haben, kann der allgemeinen Verständlichkeit eben durchaus abträglich sein. Dazu muss der Leser kein bildungsferner Dummkopf sein.
Da stellt sich die Frage: WILLST du so kryptisch schreiben, wie um elitär nur ein Publikum mit entsprechendem Bildungshintergrund zu bedienen, dem die Hintergründe der jeweiligen Anspielungen auch jederzeit so präsent sein sollen, dass sie sofort die korrekten Schlüsse ziehen?

Soll der "normale", geistig zu Fuß gehende Leser den Text verstehen, so sollte er dies beim ersten Lesen bereits können! Die Wenigsten genießen es, einen Text mehrmals lesen zu müssen, oder sich über schlimmstenfalls Tage hinweg Gedanken über mögliche Deutungen machen zu sollen, weil der Autor es möglicherweise darauf anlegt.

Mir ist durchaus klar, dass ich diesbezüglich selbst zuweilen im Glashaus sitze! Lese ich zB. alte Texte von mir mit einigen Jahren Abstand wieder, muss ich ab und an durchaus eine Weile überlegen, worauf genau ich damals, als ich es schrieb, eigentlich hinaus wollte. Bei diesen Werken muss ich mir dann eingestehen, dass ich es da nicht geschafft habe, meine eigene Prämisse einzuhalten: Zu viel Sprachspielerei, zu komplexe Formulierkunst, zu viel intellektuell versymbolisiertes Gekreise um die eigentliche klare Aussage, die ich rüberbringen wollte.

Bitte versteh diesen Kommi nicht als giftigen Vorwurf meinerseits - ich gedenke nur Denkansätze zu vermitteln, stelle allgemeingültige Fragen, die sich mir nahelegten im Verlauf einer Korrespondenz, ohne respektlos sein zu wollen. Ich weiß halt um die unzähligen Möglichkeiten in diesem beschränkten Medium, aneinander vorbei zu diskutieren, einander misszuverstehen, unlautere Motive zu vermuten und/oder zu unterstellen, böswillig Krtitk zu üben am lyrischen Stil eines anderen, wo man doch bloß versuchte, den kommunikativen Knoten durch Verständlichmachung der eigenen Gedankengänge dabei zu lösen.

Dichten ist immer eine Gratwanderung - für den Autor wie für den jeweiligen Leser. Wo ist die am ehesten allgemein verträgliche Grenze für die Symbolhaftigkeit von Texten? Ab wann verwischt der lyrsiche Anspruch der Sprachkunst die eigentlich gewollte Aussage für die statistische Majorität einer potentiellen Leserschaft? Wann wird man "zu komplex", "zu gedrechselt", "zu verklausuliert", um einen breiteren Geschmack, eine allgemeine Verständlichkeit zu treffen? Will man es überhaupt?
Nicht dass ich selbst mir beim Schreiben diese Fragen stellte - das tue ich immer erst hinterher. Meist ist einem unmittelbar nach dem Schreiben der eigene Denkprozess dabei aber noch so präsent, dass man das Geschriebene fast automatisch für allgemein gut nachvollziehbar hält. So zumindest meine eigene Erfahrung.
Dann reagiert man leicht mit Unverständnis, wenn ein Kommentator seinerseits Unverständnis zeigt: wie kann der nur NICHT erkennen, worum es da geht?! Macht er das mit Absicht!? Na warte!!

Man bemüht sich dessen eingedenk ja durchaus, nicht in diese Falle zu gehen - indes, man scheitert zuweilen an sich selbst, immer wieder. Entweder als Poet - oder als Kommentator.

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juni 27, 2021, 13:43:01 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Alba
« Antwort #4 am: Juni 27, 2021, 14:34:57 »
Tja eKy,

ich versuche eben unterschiedlich zu schreiben, mal völlig eindeutig verständlich und ohne bildungsmäßige Voraussetzungen, mal in einer für JEDEN Leser (ob mit literarischer Tiefenbildung oder nicht) gänzlich UNverständlichen (!) Art und Weise, mal in einem Angang, der hohe Ansprüche an das Kennertum des Lesers stellt, und mal (das sind mir die liebsten meiner Produkte) in einem Eintopf-Verfahren, bei dem für jeden Leser, ob Hochgebildet oder nicht, ob verkopft oder nicht, ob gefühlsbetont oder nicht, ob Klang-verlliebt oder nicht usw. usf., ein paar Elemente dabei sind, die dem jeweiligen Aufgestelltsein Erfreunis bringen.

Nun aber aus Rücksichtnahme auf einen enger gefassten Erfahrungshorizont gewisser Leser nur noch selbsterklärende Stückchen zu schreiben, wäre ja gegenüber einem (allzuhäufig unterforderten) Rezipienten mit umfassender Bildung unfair.

Also, um es klar zu sagen: Es ging mir hier, in diesem bestimmten Text, darum, dem Lesergehirn etwas Verständnisarbeit abzuverlangen und ob man sich als Leser darauf einlässt oder einen Bogen drum macht, ist ja jedermenschs eigene Entscheidung.

Mein langgefasste Erklärung, an der Du Anstoß genommen hast, war daher auch nicht dazu angetan, Dir womöglich reinzureiben, dass Du die intellektuelle Hürde unterhüpft hättest (offenbar fühltest Du Dich - sehr zu unrecht - diesbezüglich angegriffen). Die Ausführlichkeit meiner Erklärung hatte vielmehr zum Ziel, die Methode klarzumachen, nach der man sich bei "schwierigen" Gedichten vorsichtig vom Bekannteren zum Unbekannteren vorhangeln kann. In ähnlicher Weise habe ich versucht, das bei Cypis Gedicht "this" darzustellen und in jenem Fall auch darauf hingewiesen, wo ich interpretatorisch nicht weiter kam.

Und dieses Gedicht ist in der Tat ein Tagelied (dieser Begriff sagt den meisten Lesern sicherlich genauso viel oder wenig wie der Begriff Alba). Es ist aber keineswegs (nur) ein Gedicht über Romeo und Julia - daher wären Deine Titelvorschläge viel zu kurz gegriffen. Ein paar mehr Anspielungen stecken da schon noch drin - etwa auf Uhland, Grünbein, Rammstein und William Blake. Wie gesagt: Hier war das Ziel, motivierten Lyrikleseratten etwas zum Nüsseknacken zu liefern. Ich schreib aber - keine Sorge - sicher auch demnächstens wieder etwas Zugänglicheres. :)

LG!

S.
« Letzte Änderung: Juni 27, 2021, 16:03:47 von Sufnus »

Agneta

  • Gast
Re: Alba
« Antwort #5 am: Juli 01, 2021, 10:11:40 »
ich versuch mich mal, lieber Sufnus:
Alba steht als Übersetzung auch für Morgendämmerung, Kassiber ist eine Mitteilung, die ein Gefangener nach außen schmuggelt.
Weltkassiber wäre also kafkaesk, denn der Lerche Gesang beinhaltet Weltkassiber. Die Lerche hat also eine Nachricht, die sie nach außen schmuggelt aus einem Gefängnis.
Dem Gefängnis einer Beziehung, wo man keine Engel sein darf. Diese Nachricht pfercht die Liebenden ein, macht ihre Beziehung zum Gefängnis. Es war die Lerche, nicht die Nachtigall.
Es könnte eine verbotene Beziehung sein, aber dazu passt nicht: Denn mit dem Tag kommt das Licht, deckt auf. Aber sie dürfen keine Engel sein. Also sind sie Engel. Logisch wäre es für mich nur, wenn sie keine Engel wären, also im Sinne von brav.
Oder es geht um gemeinsamen Selbstmord aus Liebe. Engel im Sinne von verstorben und eine darin die  perfekte symbiotische Beziehung finden.
???
LG von Agneta

gummibaum

Re: Alba
« Antwort #6 am: Juli 01, 2021, 18:42:56 »
Schön, lieber Sufnus,

diese Anspielung auf Romeo und Julia, die sich eilig trennen mussten, da schon die Lerche im blauenden Himmel sang,weil es tagte (1. Strophe) und nicht, wie Julia zunächst glaubte, die Nachtigall (2. Strophe), die nachts singt und der heimlichen Liebe noch viel Zeit gelassen hätte.

Sehr gern gelesen.

Gruß von gummibaum

Sufnus

Re: Alba
« Antwort #7 am: Juli 05, 2021, 15:22:19 »
Liebe Agneta, lieber gum!

Vielen Dank für Eure Beschäftigung mit dem Text.:) Wie (fast) immer möchte ich hier keine eindeutige Lesart vorgeben. Du erläuterst aber schön den Hintergrund von Lerche und Nachtigall bei R+J, lieber gum! :)

Die Lerche kann auf dieser Linie für den Tag stehen (oder den anbrechenden Morgen) mit den Alltags-Verpflichtungen, vielleicht auch den Unerfreulichkeiten, die der Tag so mit sich bringt, während die Nachtigall die Abendruhe, aber eben auch die nächtlichen Liebesspiele fernab gesellschaftlicher Zwänge symbolisieren könnte. In dieser Sichtweise wäre die Lerche also Ausdruck für die Mühsal des Tages und die Nachtigal Ausdruck der Freuden der Nacht.

Natürlich korrespondiert so eine Sichtweise auch mit Gedichten, die Tag und Nacht gerade entgegengesetzt attribuieren: Der Tag, insbesondere der neue Morgen, können ja auch für Aufbruch, Optimismus, Tatkraft stehen und die Nacht für Ausgeliefertsein, schlechte Träume, ja sogar den Tod.

An einen Selbstmord der Liebenden habe ich persönlich mit dem Verweis auf "Engel" übrigens keineswegs gedacht, liebe Agneta. Aber wenn man das herauslesen wollte, dann könnte man natürlich auf den Selbstmord von Romeo und Julia verweisen. Der Sang der Lerche würde dem dann "widersagen" und entsprechend hätte sich (durchaus entgegen der ursprünglichen Intention des Autors ;) ) die Bedeutung von Tag und Nacht wieder umgekehrt, würde der Tag das Leben feiern und die Nacht den Tod. :)

LG!

S.