Autor Thema: Der Sinn von Herbstgedichten (oder: Spiegelbild entlaubter Bäume in einem Teich)  (Gelesen 558 mal)

Erich Kykal

Die Bäume, sie entheben sich mit nackten Krallen
aus Holz dem morgendlichen Nebelmeer ans Licht,
als wollten sie dem Tag um jeden Preis gefallen -
und könnten es doch ohne grünes Blattwerk nicht.

Sie leben nur aus dem, was ihre Wurzeln graben,
sind oberirdisch ungestalt, beinah wie tot,
wie dürr nach Himmeln fassend, die sie niemals haben -
wie fast Verhungerte nach dargereichtem Brot.

Doch dies sind Bilder, wie sie nur die Menschen malen,
die ihren Sinn versöhnen wollen mit dem Tod.
Sie schreiben ihre Ängste, ihre Lebensqualen
in jeden Herbst, als stille dies der Seele Not.

Der Welt ist es egal, sie wird sich weiterdrehen,
und keine Spiegelung ist je der andern gleich,
und ganz egal, was immer Menschen darin sehen -
sie nimmt es hin, sich glättend wie ein dunkler Teich.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Hallo Erich,

Gründe für Herbstgedichte mag es einige geben, man könnte der Kunst auch generell unterstellen, sie wolle - mit wem auch immer - versöhnen.

Ob durch Herbstgedichte die Seele weniger leidet?

Vielleicht trösten nicht die Gedichte, aber die Gespräche über Gedichte, und was sie für einen bedeuten?

Ich bin übrigens der Meinung, dass der Welt - dem Weltall - nichts egal ist. Dazu bräuchte es eine Empfindung.

Vielleicht hat Epikur Recht, der meinte, dass uns der Tod nichts anginge, weil wir nicht sind, wenn er ist und umgekehrt.

Einen schönen Abend

Rocco
« Letzte Änderung: November 10, 2021, 17:14:15 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

a.c.larin

Hi Erich,

Ob dein Gedicht wirklich den "Sinn" der Herbstgedichte erfasst - oder nicht doch eher  Überlegungen zu deren URSACHEN anstellt?
Das  scheint mir vom Begriff doch ein Unterschied zu sein, deshalb gefällt mir auch der erste Titel nicht.
Den zweiten würd ich verkürzen, prägnanter machen: Im Teich gespiegelt, Herbstreflexion, Novemberrätsel  oder so....
Die Gedichtzeilen sind ohnedies lang,
Für mich kommt da eine düstere Stimmung auf - aber eher denklastig  gebaut,
von großer Schwere, die im dunklen Teich versinkt, wenn er sich glättet.
Passt exakt in die Jahreszeit.

November!  Brrr! Augen zu - und durch!

Lg,larin



« Letzte Änderung: November 10, 2021, 17:47:12 von a.c.larin »

Erich Kykal

Hi Roc!

Natürlich ist mir klar, dass die Welt, oder was man landläufig so bezeichnet, unbelebt ist (im Gegensatz zu allem, was auf/in der Welt lebt) und daher selbst das Gefühl der Gleichgültigkeit schon zu weit gegriffen wäre. Indes, wenn man diese Welt in einem lyrisch formulierten Gedanken quasi personifiziert, dann darf man "ihr" durchaus Gefühle unterstellen, auch wenn sie sich dann darin erschöpfen, so gut wie keine Gefühle zu verspüren.  ;)

Und zur anhängigen Philosophie: Jedes den Tod berührende Gedankenhaus ist letztlich ein verzweifelter Versuch des Menschen, sich den Gedanken an das eigene Ende erträglich(er) zu machen. Entweder er erfindet die "Seele" und behauptet freiflottierend, dass diese (aber nicht sein Bewusstsein und seine Erinnerungen? Oder ist die Seele dann doch mit dem Geist gleichzusetzen? - Man sieht, nicht mal das haben sie erklärbar auf die Reihe gekriegt in den sog. "Heiligen Büchern" ...  ::)) weiterlebt, auch wenn der Körper stirbt, oder er erfindet "würdige" Geschichten mit nachahmenswerten Beispielen, wie man sich mit dem Gedanken an die eigene Endlichkeit abfinden kann, ohne sich das gesamte Leben davor schon damit zu vergällen.  ;) :o


Hi larin!

Das Gedicht versucht zu erklären, warum der Mensch letztlich überhaupt eine Affinität zu Herbstgedichten mit philosophischen Todesbetrachtungen entwickelt hat. Erklärung siehe meine obigen Zeilen an Roc.

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 10, 2021, 17:55:55 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Hi Erich,
genau das hab ich ja auch gesagt: Du erklärst Uraschen und vermutest vielleicht Zusammen hänge.
SINN aber ist was Anderes: Sinn hat mit Bedeutung zu tun - und eine Bedeutung schreibst du ja selber weder den  herbstlichen Bäumen noch den Gedichten, die sie beschreiben , zu.
Oder hat sich da was an deiner Weltsicht geändert?
Lg, larin

Erich Kykal

Hi larin!

Du missverstehst den Titel - es geht nicht um den Lebenssinn an sich, sondern um den Sinn von morbid oder melancholisch angehauchten Gedichten über den Herbst: Und dieser Sinn besteht darin, den Dichter und im Weiteren die Leserschaft mit der Gewissheit um die eigene Endlichkeit zu versöhnen.

Die Frage wäre also nicht: Was ist der Sinn unseres Lebens oder Sterbens? - Sondern: Was ist der Sinn von Herbstgedichten?

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 10, 2021, 21:38:13 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Hi Erich,
so, wie du es jetzt sagst, kann ichs nehmen.
Trotzdem ist der Titel einfach ein Wortmonster, finde ich.
Der passt für eine wissenschaftliche/prosaische Erörterung - aber für ein lyrisches Gedicht???

Auf der Schürze klebt die Würze - oder so ähnlich....

LG, larin
« Letzte Änderung: November 10, 2021, 19:07:06 von a.c.larin »

gummibaum

Lieber Erich,

Frühlings - und Herbstgedichte sind der gemäßigten Zone eigen, wo die Temperaturen im Sommer und Winter deutlich auseinander liegen und der Übergang durch Vegationswandel besondere Gefühle eigenen Aufblühens und Sterbens weckt. Bestimmt zielen die Herbstgedichte -wie du schreibst- auch auf eine Abwehr von Todesahnungen.

Sehr gern gelesen.

Grüße von gummibaum 

Erich Kykal

Hi Gum!

Abwehr vielleicht auch, aber hauptsächlich das sich Verhandeln mit der Gewissheit der eigenen Sterblichkeit. Im "Sterben" der Natur im Herbst scheint sich das ja zu spiegeln, und dass es für diese Natur immer einen nächsten Frühling gibt, lässt den Verfasser von Herbstlyrik wohl insgeheim hoffen, es möge auch im Falle des eigenen Sterbens so sein.
Vielleicht gibt es deshalb so viele Herbstgedichte mit lebensphilosophischen Gleichnissen, Wehmut und Melancholie, Zerfall verborgen in prächtiger, umso lebendiger wirkender Farbenglut.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.