Autor Thema: Narziss  (Gelesen 675 mal)

gummibaum

Narziss
« am: April 26, 2020, 03:29:06 »
So schön bist du! Das weckt Verlangen
darnach, dass ich dich lieben kann.
Doch immer siehst du mich nur an
und scheinst im Wasser wie gefangen.

So tauch doch auf, lass frisch erbeben
den Teich. Er schläft so todeskalt.
Umarme mich mit Urgewalt 
und schaff der Liebe wahres Leben.

Doch ach, du harrst und lässt mich scheiden,
und geh ich, ziehst du dich zurück.
Dem dunklen Grund gönnst du mein Glück,
und ich, der dich erzeugt, muss leiden…
« Letzte Änderung: April 26, 2020, 16:00:45 von gummibaum »

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Narziss
« Antwort #1 am: April 26, 2020, 18:20:55 »
Hi gummibaum,

sehr schön die Geschichte des Narziss beschrieben! Deine Gedichten muten immer so leichtfüßig an!

Im Besonderen möchte ich eine Zeile erwähnen!

"Er schläft so todeskalt."

Hier lese ich die Ambivalenz des Kampfes mit dem eigenen Ich heraus. Einerseits die empfundene Grandiosität und andererseits lauert die Falle des Egos: es ist fragil, brüchig und tief wie ein Brunnen ohne Grund, in dem Narziss unaufhörlich zu fallen scheint.
Daraufgefolgt die Aufforderung der Umarmung, die ich gleichzeitig als einen Sog der Illussion interpretiere, daraufgefolgt die Manipulation: "wahres Leben". Der Schein trügt.
Am Ende folgt die Rechtfertigung und der Vorwurf!

Interessant wäre auch die Position der zurückgewiesenen und gekränkten Echo. (Vielleicht dient es dir als Inspiration!)

Was mich an einen Diamanten band,
war sein Erglänzen und sein Gottesschein,
er führte mich hinfort ins Niemandsland,
doch was ich vor mir fand war nur Gestein.

Sehr gern gelesen!

vlg

EV
« Letzte Änderung: April 26, 2020, 21:39:46 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Narziss
« Antwort #2 am: April 26, 2020, 18:50:21 »
Hi Gum!

Der Junge, der sich in das eigene Spiegelbild verliebte - für uns heute eigentlich ein Gleichnis für die Gefahren von Selbstverliebtheit, Eigenliebe, Egoismus im weiteren Sinne. Aber doch noch mehr: Der Junge, der den Jungen liebt. Hier sind Geschlechtergrenzen aufgehoben, werden hinterfragt - zumindest, wenn man unterstellt, dass diese Liebe des Narziss eben nicht reine Egomanie, sondern - zumindest AUCH - ein klares erotisches Verlangen war.
Nun mag man meinen, dass die alten Griechen ja ein entspannteres Verhältnis zur Homosexualität pflegten als unsere Kultur es - zumindest über die letzten Jahrtausende hinweg - tat, da gab es sogar metallene Prunkbecher, welche die Knabenliebe verherrlichten und sehr bildhaft zeigten - indes, so einfach ist die Sache nicht. Auch damals war das ein ambivalentes Thema, denn was in Athen möglich war, musste in Sparta noch lange nicht gelten!

Aber vielleicht unterstelle ich dem obigen Werk hier eine Metaebene, die vom Autor gar nicht so gedacht war ... - wie auch immer, ein sehr gutes Gedicht!

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Narziss
« Antwort #3 am: April 27, 2020, 15:31:33 »
Wunderbare Zeilen, lieber gum!
Den von eKy hervorgehobenen homoerotischen Aspekt finde ich persönlich bei diesem Werk (und dem Mythos, der dahinter steht) eher uninteressant.
Spannender finde ich das Verhältnis von bloßem Abbild (in Form des Spiegelbildes im Wasser) und dem, was die Fantasie in dieses Bild hineinprojiziert.
Die natürliche "Vorlage" des Spiegelbildes wird hier zum kreativen Schöpfer: "und ich, der dich erzeugt... ".
Ist das nicht auch ein Sinnbild für das schöpferische Künstlertum? Und sollte es ein Zufall sein, dass unter Künstlern die (gekränkte) Eigenliebe ein häufig zu beobachtendes Problem ist? Gibt es wohl unerwiderte Eigenliebe?
VG!
S.

gummibaum

Re: Narziss
« Antwort #4 am: April 27, 2020, 16:18:46 »
Lieber Eisenvorhang, lieber Erich, lieber Sufnus,

danke für eure tollen Kommentare. Ich kann nichts weiter hinzufügen.

Liebe Grüße von
gummibaum

 

Sufnus

Re: Narziss
« Antwort #5 am: April 27, 2020, 17:10:00 »
Was mir noch auffiel ist, dass sich hier vielleicht ein neuer Zyklus von Dir andeutet? Neben dem Mythos von Narziss hast Du ja andernorts, in einem Faden von EV, schon eine sehr schöne Interpretation zur Erfindung der Doppelflöte (Aulos) geliefert - in Deiner Fassung, etwas abweichend von der antiken Standardsage, verzaubert Euterpe einen Satyr (Marsyas?) mit ihrer Spielkunst... hoffentlich geht es für den armen Faun nicht so schlimm aus, wie in der üblichen Überlieferung... aber jedenfalls beginnt hier vielleicht beine neue gummibaum'sche Lyrikreihe mit ihrer Entfaltung? Würde mich sehr freuen! :)