Autor Thema: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik  (Gelesen 2447 mal)

Sufnus

Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« am: Mai 12, 2020, 13:02:50 »
Ihr Lieben!

Ich wollte jetzt doch einmal ausprobieren, ob wir nicht zum zuletzt in einem Gedichtefaden von mir angeschnittenen Thema der "modernen Lyrik" zu einem gewinnbringenden Austausch gelangen. :)

Der Anknüpfungspunkt hierfür ist, eKys Verdruss ob der Form-losigkeit, die in der Lyrik seit ca. 1860 vermehrt um sich gegriffen hat (Arno Holz wäre hier vielleicht als ein früher Protagonist zu nennen), gepaart mit zunehmender Sinn-Verweigerung in der Tradition von Expressionisten, Dadaisten, Surrealisten und der konkreten Poesie (bei Letzterer natürlich mit einem ganz anderem poetologischen Konzept). Am Ende dieser Entwicklung steht eine Vorstellung, die eKy (und viele andere Leser oder eben gerade auch Nicht-Leser) für sich unter dem Stichwort "moderne Lyrik" ablegen:
Ein "sinnloser", reimfreier, metrisch ungebundener Text, der sich Grammatik und Orthographie hartnäckig verweigert.

Um das, was eKy sich (denke ich mal) unter "moderner Lyrik" vorstellt, im Anschluss mal ein paar Textbeispiele (Urheberrechtsfrei, weil schon Alt, mithin also noch am Anfang der Entwicklung "moderner Lyrik" stehend).

Zu diskutieren wäre m. E.:

A.
Sind
1. Formfreiheit
2. Durchbrechen von Sprachregeln
3. Sinn-Verweigerung
definierende Kennzeichen "moderner Lyrik". Kann also ein (einigermaßen) regelhaft gebautes Sonett per definitionem keine moderne Lyrik sein?

B.
Hat der Reim noch einen Platz in moderner Lyrik oder (um das Argument umzudrehen): Ist Lyrik ohne Reim per defintionem "gar keine richtige" Lyrik?

C.
Würde heutzutags mehr Lyrik gelesen, wenn die Lyriker wieder anfingen, "traditionell" zu dichten? Und was heißt das?
Ist also die Lyrikszene selber schuld, wenn sie ein Nischendasein führt, weil sie für das "normale Publikum" (wer ist das?) einfach zu verkopft, zu verquast, zu schräg geworden ist?


Und hier erstmal ein paar Textbeispiele, die den "Beginn der Moderne" in der deutschen Lyrik etwas illustrieren sollen:


Arno Holz (1863 - 1929)

In rote Fixsternwälder, die verbluten

In rote Fixsternwälder, die verbluten,
peitsch ich mein Flügelross.
Durch!
Hinter zerfetzten Planetensystemen, hinter vergletscherten Ursonnen,
hinter Wüsten aus Nacht und Nichts
wachsen schimmernd Neue Welten – Trillionen Crocusblüten!

***

August Stramm (1874 - 1915)

Traumig

Frauen schreiten ab zersehnte Augen
Kinderlachen händelt schmerzes Blut
Fernen nicken
Blüten winken
Kommen sammeln winden
Würgen sticket klamm die tränen Schlund.

***

Hugo Ball (1886 - 1927)

Katzen und Pfauen

baubo sbugi ninga gloffa
siwi faffa
sbugi faffa
olofa fafamo
faufo halja finj

sirgi ninga banja sbugi
halja hanja golja biddim
mâ mâ
piaûpa
mjâma

pawapa baungo sbugi
ninga
gloffalor

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #1 am: Mai 12, 2020, 14:20:32 »
Huhu Sufnus,

interessanter Faden!

Ich glaube, dass sich die moderne "Lyrik" oder "die Lyrik" erst noch richtig entwickeln muss, bevor sie sich von altmeisterlichem Handwerk abspalten kann.
Es gibt viele Ableger von Lerner, Kling, Winkler, Zweig, die ja mit bekannten und diversen Brüchen der Sprache begonnen haben und so hat sich das dann durch die Jahre verwurzelt.
Eine feste Form braucht es auch dann, wenn die eigentliche Form des Gedichtes zerworfen scheint. Ich denke es muss funktionieren und ich denke, dass die moderne Lyrik zwingend Poesie in sich tragen sollte.
Moderne zerhacktstückelte Fragmente, deren Zugänglichkeit einer verschlossenen Höhle ähneln... Nein.
Winkler schafft da einen guten Kompromiss zwischen alt und neu.

Vielleicht ist die moderne Lyrik bereits entwickelt und eher ein Resultat aus Gespür, Intuition und kreativem Schreiben.
Lyrik wird, wie mir scheint, auch zunehmend minimaler und "haikuesqer". Schreibt man das so? Keine Ahnung.
Du schreibst ja immer viel in deinen Kritiker über Stilbrüche oder über Passagen, die nicht so ganz zu passen scheinen.
Daher vermute ich, dass sich das auch in anderen Bereichen der Lyrik auf diese Weise benehmen wird. 

Es gibt Kritiken zu neuen Werken, wo ich mich frage: "HAE? Wo ziehen die sich das aus den Fingern..."
Da zweifel ich jedes mal an meinen kognitiven Fähigkeiten...

vlg

EV
 
« Letzte Änderung: Mai 12, 2020, 14:41:58 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #2 am: Mai 12, 2020, 14:55:35 »
Hi EV!
Danke, dass Du Dich auf den Diskurs einlässt, der ja zunächst vor allem eine Begriffsbestimmung ist - was ist ein Gedicht, was ist Lyrik, was ist Poesie, was bedeutet "modern" (nicht als Verb! ;D) usw...
Und bei diesen Fragen gibt es kein beweisbares richtig oder falsch - allenfalls gibt es Definitionen, die mehr oder weniger sinnvoll anwendbar sind.
Wenn jemand für sich sagt: "Ein Text mit höchstens 2000 Wörtern und viel freiem Rand rechts und links ist ein Gedicht und wenn es mir gefällt, so nenne ich es poetisch", dann sind diese Definitionen nicht "widerlegbar", man kann höchstens hinterfragen, ob sie nicht etwas zu allgemein gehalten sind, um eine Differenzierung zwischen "Gedicht" auf der einen Seite und "Kürzestgeschichte", "Witz", "Motto", "Bedienungsanleitung" und "Hinweisschild" auf der anderen Seite zu ermöglichen.
Letzten Endes hilft es bei einer Diskussion natürlich ungemein, wenn man unter den Begriffen ungefähr das gleiche versteht. :)
LG!
S.

Martin Römer

  • Gast
Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #3 am: Mai 12, 2020, 14:59:16 »
In meinen bitteren Stunden erscheint mir deine Frage wie ein hübsches Fischgericht.
Das Thema ist das königlichste nicht und doch, das kurze Abarbeiten langweilt nicht.

1. Sind Sprach- und Sinnvergewaltigungen definierende Kennzeichen "moderner Lyrik". Kann also ein (einigermaßen) regelhaft gebautes Sonett per definitionem keine moderne Lyrik sein?

Ich würde sagen ja.
Wenn man die moderne Lyrik klassischerweise als Unrat versteht, kann das gute Sonett wohl nicht dergestalt klassifiziert werden.

2. Hat der Reim noch einen Platz in moderner Lyrik oder (um das Argument umzudrehen): Ist Lyrik ohne Reim per defintionem "gar keine richtige" Lyrik?

Hier wird gewisserweise einiges miteinander durchgeworfen. Zum besseren Verständnis sei die Malerei herangezogen:
ist der Unsinnsschmierer der moderne Maler oder der Sichbemühende, der nunmal Kind des 21. Jahrhundert ist, der moderne Maler?

Der Reim ist gewisserweise für das Mirakulöse zuständig - blutige Geschichten in diesem Gewand, hach ja....***
Prokofiev hat mal ein Stück gemacht ohne Melodie. Na ja, wie wunderbar....
Also:
der Reim ist für die Lyrik maßgebend über die Epochen hinweg, bei der zweiten Frage muss man wieder - heute ist nicht dein bester Tag - Aufdröselung betreiben:
es gibt eine recht seltene erhabene freie Lyrik und wie gesagt den Nonsens.


3. Würde heutzutags mehr Lyrik gelesen, wenn die Lyriker wieder anfingen, "traditionell" zu dichten? Und was heißt das?
Ist also die Lyrikszene selber schuld, wenn sie ein Nischendasein führt, weil sie für das "normale Publikum" (wer ist das?) einfach zu verkopft, zu verquast, zu schräg geworden ist?

Das ist gewisserweise eine widersinnige Frage.
Wenn es - vielleicht bspw. durch Corona, was ich jedoch nicht glaube - ein Bedürfnis gibt nach besseren Zuständen, so werden sie wieder ernsthaft besungen und traditionell gepriesen.
Ansonsten ist "diese" Lyrikszene angesiedelt neben Schmetterlings- und Briefmarkensammlern - seltsame Leute, die harmlos sind.


In summa - und es darf gerne zu Gelächter reizen -:
hin und wieder schleicht sich die Chose der modernen Lyrik in meinen Gerechtigkeitskummer ein.
Warum planscht dieses Gesocks für gewöhnlich im Glück und Leute mit anständigem Herzen zittern im Ungemach?
Aber wirklich nur selten. Dann ergreift die Grämnis über sich selbst wieder das Kommando!

Unsinn sind die vorgebrachten Beispiele - was sonst?


Viele Grüße
M.


***
Eine Frage, die mich mal wirklich reizen würde: kommt Kunst von Englein oder von Heroen? Geschenk oder verklärte Leiden?
Lady Anneliese hat sich wie so häufig nicht ganz festgelegt, tendierte aber wohl zum "Schmerz als wahren Schöpfer".

Oder anderer niveauvoller Austausch. Was ist von der lyrischen Kunst die innere Bedeutung?
Ist die Sonettform ein aristokratisches Gebilde für graue Seelen? In meinen Augen eher ja.
Mein Weg zu dem ganzen Singsang war übrigens der vom freien Narren, der edele Momente haben möchte...

Na ja.
Im Augenblick ergeht sich die Unerquicklichkeit.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #4 am: Mai 12, 2020, 15:09:29 »
Lyrik ist für mich das was sie einst war. Ein Gesang von einer Lyra begleitet. Ferner formgebundener Text, der durch rhythmische Elemente und durch den Einsatz sprachlicher Mittel zum Gedicht wurde.
Poesie ist für mich der emotionale Grundstein emotional bewegte Bilder zu schaffen, die Gänsehaut beim Lesen verursachen. Ich kenne kein modernes Gedicht, was das bisher bei mir erwirken konnte.

Ich denke schon, dass gerade Sonette modern verdichtet werden können.
Das setzt aber schon gute Fähigkeiten voraus und viel Erfahrung mit zeitgenössischer Lyrik.

:-)
« Letzte Änderung: Mai 12, 2020, 15:11:04 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #5 am: Mai 13, 2020, 02:04:26 »
Hallo!

Interessante Problematik. Der Vergleich mit der abstrakten oder klassischen Malerei oder Bildhauerei funktioniert nicht. Hab an anderer Stelle schon erklärt, warum. Ich schätze manche abstrakten Maler oder Plastiker durchaus sehr, weil es im bildnerischen/figürlichen Gestalten auch um Technik, Form und Farbe geht, nicht nur um Motive. Ausdruck lässt sich hier auf vielen Ebenen generieren.
Die Sprache der Lyrik hingegen ist nicht so vieldimensinal.

Letztlich kommt es nur darauf an, wie weit man den Terminus Lyrik fassen will. Ein gutes Beispiel ist "Schtzngrmm" von Ernst Jandl. Ich verstehe die Botschaft, sie ist genial umgesetzt in eindrücklichen, beklemmenden lautmalerischen Klangbildern. Aber ist es Lyrik, nur weil es Wortkunst ist? Die Botschaft erreicht mich auf rein intellektueller Ebene - das genügt mir nicht. Lyrik nenne ich etwas, das auch mein Herz, meine Emotion berührt.
Ich brauche nur ein paar Seiten Rilke zu lesen, und schon kullern mir die Tränen - einfach allein schon, weil die Sprache so wunderschön ist! Und weil sie mich anrührt, zutiefst bewegt mit ihren Bildern in weichem, harmonischem Fluss. Ein Werk wie "Schtzngrmm", so großartig die Idee dahinter auch sein mag, vermag das bei mir nicht zu erreichen.

EV hat im vorhergehenden Kommi praktisch dasselbe gesagt, und ich pflichte bei: Lyrik ist Sprache, die das Innerste berührt. Abstrahierte Kunstbasteleien mit Sprachbausteinen, so intellektuell sie auch sein mögen, können das niemals vollbringen. Daher ist moderne Lyrik für mich KEINE Lyrik. Was mich ärgert, sind nicht die Werke der Moderne, die kann ich ja ignorieren, sondern ihre freche Einordnung unter dem Begriff Lyrik.

Wie das 3. Beispiel (von Herrn Ball), das Sufnus anführt: Fantasiesprache, Kindergelalle, onomatopoetischer Dadaismus? Es könnte auch jeder andere beliebige Titel darüber stehen, es spielte keine Rolle. Nennte man es "Sprachliche Experimentalkunst", ich hätte kein Problem damit, ob ich es nun für Schwachsinn halte oder nicht. Aber sich dazu zu versteigen, es unter Lyrik einzureihen - das ist bestenfalls verärgernd.
Die Beispiele verärgern zudem durch das bewusste Weglassen von Großschreibung und/oder Satzzeichensetzung. Für mich eindeutige Indizien dafür, dass hier jemand seinen Texten mehr "künstlerische Anmutung und Bedeutung" zu verleihen versucht, indem er sie solcherart manieristisch vergeheimnisst.
Ich nenne solche Elaborate gern recht drastisch "Hirnwixerei" - weil sie genau das für mich sind. Das muss nicht unbedingt etwas Negatives sein, aber Lyrik ist es nach meinem Verständnis eben keine. Punkt.


Zur Geschichte:

Schrieben alle Dichter heute plötzlich wieder gereimt, es würde mE. rein gar nichts bringen, denn die Lyrik als Kunstform führt seit den Weltkriegen ein Schattendasein, abgehängt von modernen Massenmedien, die für bessere Unterhaltung sorgen als komplexe Sprachbasteleien.
Die Lyrik war groß, als es noch weder Radio, TV, Kino oder Internet gab, und Oper und Theater für viele zu teuer waren, um es sich oft leisten zu können. Damals musste man die Freizeit (Sport war noch nicht angesagt) mit irgendwas füllen, und nur Hausmusik oder Spaziergänge bei gutem Wetter war eben nicht alles. Damals las oder schrieb man Gedichte in weiten Kreisen, und keine Zeitung oder Gazette kam ohne mindestens eine ganze lyrische Seite aus.
Es ist natürlich nur meine ganz persönliche Meinung, aber ich glaube, dass die vor und um die Jahrhundertwende ihre Abwege beginnenden "modernen" Schreiber diese Breitenwirkung verscherzten, weil sie sich in solch verkopfte Sprachexperimente mit künstlerischem Anspruch verstiegen, dass ihnen die breite Masse der damaligen Leserschaft nicht weiter folgen konnte oder wollte. Die Greuel der Weltkriege taten ein Übriges dazu, die Gesellschaft zu "prosaisieren". Es gab Wichtigeres als Lyrik. Die Gedichte verschwanden aus den Medien, weil viele das "moderne Zeux" nicht nachempfinden oder verstehen konnten - oder weil, wie oben beschrieben, einfach das Herz nicht mehr angesprochen wurde. Hirnwixerei eben ...

Wer alte Werbetexte oder -filme kennt, weiß, dass bis zum 2. WK und eine kurze Weile danach kaum ein Spot ohne Reim auskam. Viele waren sogar NUR in Reimform abgefasst. Aber plötzlich galt das als altbacken und verpönt. Es war ohnehin ein Fehler und vielleicht der letzte Sargnagel der Reimkunst: Werbung ist eine Lüge, eingehend verpackt. Aber wenn Lyrik lügt, verrät sie sich selbst. Die Menschen nahmen das unterbewusst durchaus wahr. So lustig und eingängig ein Werbereim auch sein mochte - man erkannte die manipulative Absicht dahinter. Man hat etwas Edles wie die Reimkunst missbraucht, um mehr Zigaretten oder was auch immer zu verkaufen, und das obendrein oft in armseliger Qualität, verglichen mit dem Schaffen wirklicher Dichter! Auch das hat viel verdorben und führte dazu, dass man Gereimtes nicht mehr ernst nahm. Nur wenige setzten noch lange weiterhin darauf, wie ZB Asbach Uralt ... (Wer kennt's noch?)

Aber warum ist ein Kinderbuch wie der Struwwelpeter noch heute ein gefragter Klassiker? Warum lesen so viele noch immer Wilhelm Busch, und nicht unbedingt nur Max und Moritz? Reime, so simpel sie für die Ansprüche kleiner Geister auch sein mögen, gehören zu unseren frühesten kindlichen Erinnerungen - und das aus gutem Grund!
Sind sie wohlgefertigt, sprechen gute Gedichte etwas in uns an, etwas Musikalisches, aber auch noch tiefer Liegendes - Basisemotion, innerster Kern. Einfach, aber mächtig. Reime sind Magie. Sie versöhnen Bewusstes und Un(ter)bewusstes in einem einzigen melodischen Gedanken. Das greift in die Saiten der Seele (oder des Bewusstseins für jene, die mit Seele nix am Hut haben ...) und lässt sie mitschwingen! DAS ist Lyrik!


LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 13, 2020, 02:12:59 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #6 am: Mai 13, 2020, 09:13:00 »
Lyrik war und ist Ausdruck von Klangmelodie, da kann man Jandl noch so oft durch den Wolf drehen- es wird kein Gedicht draus. Und wieso dieses Nischendasein? Lyrik ist heute präsenter denn je, als Rap, als Liedermachertext, als Schlagertext, als Poetry Slam, nur eben in einem neuen Gewand. Es zeigt jedoch, dass das Ohr auf Sprachmelodie geeicht ist und sei es nur am Beispiel von Helene Fischer. Es zeigt, dass Prosodie, gerade in Verbindung von Musik kognitiv anders verankert ist als formale Sprache, denn die Musik sitzt im Gegensatz zur Sprache in der viel älteren Gehirnrinde, im Gegensatz zur reinen Sprache, die im Kleinhirn verortet ist. Menschen haben viel früher Musik gemacht, als sie Sprache entwickelt haben. Das ist das Geheimnis der frühkindlichen la la la und der Struwelpetersymbolik, die genau darauf beruht. Lyrische Sprache ist nicht nur Bestandteil von tiefer Emotionalität, sondern sie findet sich auch rudimentär in Sprechchören bei Demonstrationen und Fußballstadien  (nieder mit dem Bayernpack) wieder und erfüllt eine politische Standortbestimmung. Lyrik in der Musik spaltet die Gesellschaft, weil sie die Positionen manifestiert und kann sogar zu Kündigungen bei RTL führen. Moderne Lyrik kann das nie, bestenfalls hat Günter Grass es mit seinem "Was zu sagen wäre" einmal geschafft. Aktuelles Beispiel ist Xavier Naidoo, der eine Lawine losgetreten hat mit einem simplen Song. Ohne Wertung möchte ich anhand dieses Textes aufzeigen, wie brisant so eine "Kiste" werden kann, fast so wie "Winds of Change" von den Skorps. Gruß vom Hans

Ihr seid verloren.

Text auf meinem Blog
https://beisl55.blogspot.com/2020/05/ihr-seid-verloren.html
« Letzte Änderung: Mai 13, 2020, 15:59:24 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #7 am: Mai 13, 2020, 09:26:47 »
Was ich noch hinzufügen möchte, was für mich sehr interessant war und ist.
Ich hatte damals eine Teilzeitstelle bei einem Professor der forensische und psychologische Gutachten tätigte.
Nebenbei führt er ein Zentrum für Jugendliche, die ein Grenzgängerdasein fristen: Borderline, Autismus, Depressionen, ADHS, Lernschwächen und so weiter.
Die damaligen Patienten hatten in den seltensten Fällen Kontakt zu Literatur, Kunst oder Musik. Sie waren oft Kinder des Missbrauchs, Kinder von Hartz4 Familien, Kinder von abhängigen Eltern, eine endlos lange Liste. Damals fertigte der Prof. eine kleine Studie an, in der er herausfinden wollte, welcher Kanal für belastete Kinder der beliebteste war, ohne sie beeinflusst zu haben.
Die Kinder hatten aus allen Möglichkeiten die Wahl.

Nun dürft ihr raten, was es war. 80 Prozent der jugendlichen griffen freiwillig zur Sprache / Lyrik, wenn es darum ging ein Ventil zu haben und sich auszudrücken.
Ich hatte damals Kontakt zu einer 17 Jährigen Jugendlichen mit hoch-funktionellem Autismus, die eigentlich mit keinem sprach, nicht weil sie mutistisch war, sondern weil sie die allgemeine Kommunikation zur Rasse Mensch verweigerte.
Irgendwann steckte sie mir einen kleinen Zettel mit einem Gedicht zu, welches mich heute noch extrem berührt. Sie hatte keinerlei Bezug zur Lyrik, auch keine Affinität zur Sprache allgemein.

Das Gedicht habe ich noch, ich teile es mit euch!

Der Autisten Vater

Ich sitze hier bei mir daheim
doch einladen darf ich keinen,
drum bin ich allein.

Ich habe meine Ausbildung verloren
darüber bin ich nicht heiter,
drum mache ich mit der Autismusgeschichte,
wie immer einfach weiter.

Gläser überseh ich zum Beispiel
mal beim Aufräumen am Tag,
was mein Vater als Autismus deuten mag.

Meine Kommunikation
ist jetzt auch gestört,
weil ihm nur das interessiert was er hört.

Und komm ich mit so manch
naturwissenschaftlichen Sachen,
dann kriegt er nur das große Lachen.

Gefühle hätt ich keine und doch spüre ich die Wut,
weil das, was er mit mir macht,
mir unendlich weh tut.
 

Sufnus

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #8 am: Mai 13, 2020, 15:24:56 »
Ich bin ganz glücklich, dass sich zu diesem Thema ein vielstimmiger Chor herausbildet. :)
Wenn ich Eure Thesen etwas versuche, unter einen Hut zu packen (korrigiert mich, wenn ich dabei falsch liege), dann wären für eKy, EV, Martin und auch Hans bei dem Begriff "Lyrik" Aspekte wie Sanglichkeit oder Melodiosität, also sprachliche Musikalität im weitesten Sinne, zentral.
Ein Text, bei dem es sich um "Lyrik" handelt, müsste nach diesem Verständnis mit besonderen Klangstrukturen, einem gewissen melodischen Sprachfluss, einer irgendwie "fühlbaren" inneren Struktur aufwarten.
Und die klassischen Mittel, um diese Ziele zu erreichen, wären für Euch a) die Verwendung von Reim und/oder b) der Gebrauch einer mehr oder weniger regelhaften, "gebundenen Sprache", die also einigermaßen definierte metrische "Versfüße" (Jambus & co.) erkennen lässt.
Hans würde dabei, wenn ich das richtig verstehe, Lyrik und Gedichte weitgehend gleichsetzen, weshalb Jandls schtzngrmm, dem es sowohl an Reim als auch an Metrum mangelt, für Hans nicht nur keine Lyrik, sondern auch kein Gedicht ist.
Bei Euch anderen bin ich etwas unsicher, ob Ihr zwischen Lyrik und Gedichten für Euch noch einmal differenziert. (An dieser Stelle übrigens meine glücksbeseelte Reverenz an eKy, der den Text von Jandl hier als Beispiel aufgeführt hat - es ist von diesem (wie ich finde hochbedeutenden) Dichter einer der Texte, den ich am meisten bewundere! :) )
Weitgehend einig seid Ihr Euch auch bei dem Begriff Poesie, der für Euch ein anrührendes, auf die Gefühlsebene zielendes Element beinhaltet. Ein formsicher gebauter, gereimter Text, könnte demzufolge unter den Begriff Lyrik fallen, aber dennoch nicht sehr poetisch sein, wenn er Euch nicht "ergreift" (eine klassische Lyrik-Anthologie der frühen 1950er Jahre hieß "ergriffenes Dasein").
Auf meine Fragen A und B zu "moderner Lyrik" ist jetzt nur Martin direkt eingegangen, aber er würde, wenn ich das richtig verstehe, sagen, dass "moderne Lyrik" ein Widerspruch in sich selbst ist und so eigentlich nicht existiert, der Begriff also allenfalls als Sammelbezeichnung für aktuellen "Unrat" taugt. Wobei er noch einmal betont, dass Reim für Lyrik (mit wenigen Ausnahmen) ein für ihn ganz essentielles Element darstellt.
Und Martin und eKy dürften darin übereinstimmen, dass es sich bei einem (gut gemachten) Sonett ganz unbedingt um hochrangige Lyrik handelt, ein solcher Text aber per definitionem keine "moderne Lyrik" sein kann. Hier nähert sich eKy auch Martins Definition von "moderner Lyrik" als einem "Unrat" an.
Ich glaube diese begrifflichen Klarstellungen sind wichtig, wenn wir über die Frage diskutieren wollen, ob es im 21. Jahrhundert überhaupt noch "neue Lyrik" geben kann und wie diese aussehen könnte.
Ihr habt natürlich noch viel mehr wichtige Aspekte aufgebracht, aber ich glaube mein zunächst einmal um eine gewisse semantische Basis bemühte Text ist langsam lang genug... also lieber später mehr... ;)
LG!!!
S.

Sufnus

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #9 am: Mai 13, 2020, 15:33:57 »
Und ein kleiner Nachtrag noch zum Textbeispiel von Hans: Es handelt sich bei diesem Text und dem zugehörigen Sänger um Beispiele dafür, wie Widerspruchsgeist und Streitlust (eigentlich nicht ganz unsympathische Eigenschaften) zu geistiger Brandstiftung verführen können. Ich wäre nicht glücklich, die rassistischen Tendenzen von Xavier Naidoo in diesem Thread hier zu diskutieren, da das mit dem Thema dieses Threads, der Lyrik, offenkundig überhaupt nichts zu tun hat.
Hierfür können wir aber natürlich gerne einen eigenen Faden aufmachen, in dem es dann um Ressentiments gegenüber "Fremden" geht und die Frage, wie hiermit verknüpfte gesellschaftliche Konflikte angesprochen und ausgetragen werden sollten. Wenn Ihr wollt, mach ich den Faden gerne auf, da hätte ich sicher auch Beiträge zu liefern...

EDIT: Ich mach einfach mal... sonst wirkt es so, als wollte ich Hans Beitrag einfach abwürgen... allerdings würde ich Dir empfehlen, Hans, den Originaltext von Naidoo nicht wörtlich zu zitieren, um Dich nicht in Urheberrechtsdiskussionen zu verstricken... ich würde einfach per Link auf diesen Text referieren. :)
« Letzte Änderung: Mai 13, 2020, 15:46:22 von Sufnus »

hans beislschmidt

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #10 am: Mai 13, 2020, 15:53:04 »
Hi Suf, das wäre keine gute Idee, Xavier Naidoo - den Song, das spalterische Ergebnis, der Shitstorm, der Rausschmiss beim Sender usw usw  zu diskutieren. Mir ging es nur darum ein Beispiel zu geben, was aktuell ein (Song) "Gedicht" auslösen kann.
Wertfrei habe ich wohlweislich gesagt. Lassen wir's dabei bewenden, ist besser so. Gruß vom Hans

Richtig Suf .... Den Songtext hab ich auf meinen Blog genommen, damit ist die Wiese entlastet.
« Letzte Änderung: Mai 13, 2020, 16:02:13 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Erich Kykal

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #11 am: Mai 13, 2020, 16:05:41 »
Hi Hans!

Der Text "Ihr seid verloren" ist aber von dir, und er ist genau die Art von undifferenzierender Hass- und Angstkotze, die ich so zutiefst verachte. Aufruf zur modernen Bartholomäusnacht! Lebt in Furcht, alle die ihr hierzulande dunkles Haar und dunkle Augen habt und auf Teppichen betet! Was für ein ungerechtes Konzept ...

Ich weiß, dass du gute Seiten hast, aber diese Seite an dir werde ich niemals zu schätzen wissen, egal, wieviel Rechtfertigungslametta du drumherum rascheln lässt!  ::) :o :-\

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #12 am: Mai 13, 2020, 16:12:43 »
Hi Erich, ist nicht mein Text.
Nachzulesen hier ..... im Rolling Stone Artikel
https://www.rollingstone.de/xavier-naidoo-video-song-fluechtlinge-rechts-rassist-1917643/
Gruß vom Hans
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #13 am: Mai 13, 2020, 16:14:01 »
Na... jetzt bin ich schon tätig geworden, Hans. Habe Deine Bedenken schlicht zu spät gelesen... wir können den anderen Faden natürlich auch gleich wieder einschlafen lassen, aber ich hätte das Gefühl gehabt, dass dann eine Diskussion abgewürgt wird, an der Dir vielleicht liegt.
Und @eKy: Der Text ist nicht von Hans sondern von Xavier Naidoo... den wirst Du bestimmt nicht kennen  ;), er ist viel jünger als Rilke  ;D Und in dem Fall würde ich Dir auch zustimmen, dass Nichtkennen hier im Sinne geistiger Entlastung etwas sehr positives ist. :)

EDIT: Jetzt kam mir Hans schon wieder zuvor... wie dem auch sei.. wenn wir den Text diskutieren wollen, vielleicht lieber hier: http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=7958.0

Erich Kykal

Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
« Antwort #14 am: Mai 13, 2020, 16:24:34 »
Hi Hans!

Ich entschuldige mich - alles klar, es ist der Naidoo-Text. Ich fand ihn über deinen Link in deinem Blog und nahm an, er wäre deshalb von dir.

 ;) Aber das kommt davon, dass du selbst durchaus ähnliche Texte verfasst hast, oder? Sonst hätte ich derlei nie gemutmaßt. Denk mal drüber nach! Und wenn du ihn in deinen Blog stellst, scheinst du ja inhaltlich damit übereinzustimmen - ich las jedenfalls nichts darunter von wegen: "He Leute, lest das! Das glaubt ihr nicht - was für eine hetzerische Scheiße von X. Naidoo!" - Da steht nicht mal irgendwo dabei, von wem genau der Text ist ...


Zu Xavier Naidoo:

Tolle Haltung für jemanden, dessen Name ausgerechnet SOOOO urgermanisch rüberkommt ...  ::)

Ich bin erschüttert über diesen oberflächlich seichten, aggressiv verallgemeinernden und brandschürenden Text! Das letzte, was ich von diesem Typen wusste, war sein Religionstick - all die gottverehrenden Lieder, der ganze Schmus, schon von daher nicht meine Musik. Dass er jetzt ins erzkonservative Menschenfeindelager gewechselt hat, beweist die tiefe Unsicherheit und geistige Labilität solcher Gottestrottel ... - Moral ist offenbar, was gerade angesagt erscheint ...
Ich frage mich, wie er so eine Haltung mit seinem ganzen Nächstenliebe-Gejodel aus früheren Songs in Einklang bringt! Wahrscheinlich gilt das nur für andere brave Christenmenschen ...  ::)

Ich klatsch mir an den Kopf! Was für ein Schwachmat!

LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 13, 2020, 16:27:57 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.