Hallo!
Interessante Problematik. Der Vergleich mit der abstrakten oder klassischen Malerei oder Bildhauerei funktioniert nicht. Hab an anderer Stelle schon erklärt, warum. Ich schätze manche abstrakten Maler oder Plastiker durchaus sehr, weil es im bildnerischen/figürlichen Gestalten auch um Technik, Form und Farbe geht, nicht nur um Motive. Ausdruck lässt sich hier auf vielen Ebenen generieren.
Die Sprache der Lyrik hingegen ist nicht so vieldimensinal.
Letztlich kommt es nur darauf an, wie weit man den Terminus Lyrik fassen will. Ein gutes Beispiel ist "Schtzngrmm" von Ernst Jandl. Ich verstehe die Botschaft, sie ist genial umgesetzt in eindrücklichen, beklemmenden lautmalerischen Klangbildern. Aber ist es Lyrik, nur weil es Wortkunst ist? Die Botschaft erreicht mich auf rein intellektueller Ebene - das genügt mir nicht. Lyrik nenne ich etwas, das auch mein Herz, meine Emotion berührt.
Ich brauche nur ein paar Seiten Rilke zu lesen, und schon kullern mir die Tränen - einfach allein schon, weil die Sprache so wunderschön ist! Und weil sie mich anrührt, zutiefst bewegt mit ihren Bildern in weichem, harmonischem Fluss. Ein Werk wie "Schtzngrmm", so großartig die Idee dahinter auch sein mag, vermag das bei mir nicht zu erreichen.
EV hat im vorhergehenden Kommi praktisch dasselbe gesagt, und ich pflichte bei: Lyrik ist Sprache, die das Innerste berührt. Abstrahierte Kunstbasteleien mit Sprachbausteinen, so intellektuell sie auch sein mögen, können das niemals vollbringen. Daher ist moderne Lyrik für mich KEINE Lyrik. Was mich ärgert, sind nicht die Werke der Moderne, die kann ich ja ignorieren, sondern ihre freche Einordnung unter dem Begriff Lyrik.
Wie das 3. Beispiel (von Herrn Ball), das Sufnus anführt: Fantasiesprache, Kindergelalle, onomatopoetischer Dadaismus? Es könnte auch jeder andere beliebige Titel darüber stehen, es spielte keine Rolle. Nennte man es "Sprachliche Experimentalkunst", ich hätte kein Problem damit, ob ich es nun für Schwachsinn halte oder nicht. Aber sich dazu zu versteigen, es unter Lyrik einzureihen - das ist bestenfalls verärgernd.
Die Beispiele verärgern zudem durch das bewusste Weglassen von Großschreibung und/oder Satzzeichensetzung. Für mich eindeutige Indizien dafür, dass hier jemand seinen Texten mehr "künstlerische Anmutung und Bedeutung" zu verleihen versucht, indem er sie solcherart manieristisch vergeheimnisst.
Ich nenne solche Elaborate gern recht drastisch "Hirnwixerei" - weil sie genau das für mich sind. Das muss nicht unbedingt etwas Negatives sein, aber Lyrik ist es nach meinem Verständnis eben keine. Punkt.
Zur Geschichte:
Schrieben alle Dichter heute plötzlich wieder gereimt, es würde mE. rein gar nichts bringen, denn die Lyrik als Kunstform führt seit den Weltkriegen ein Schattendasein, abgehängt von modernen Massenmedien, die für bessere Unterhaltung sorgen als komplexe Sprachbasteleien.
Die Lyrik war groß, als es noch weder Radio, TV, Kino oder Internet gab, und Oper und Theater für viele zu teuer waren, um es sich oft leisten zu können. Damals musste man die Freizeit (Sport war noch nicht angesagt) mit irgendwas füllen, und nur Hausmusik oder Spaziergänge bei gutem Wetter war eben nicht alles. Damals las oder schrieb man Gedichte in weiten Kreisen, und keine Zeitung oder Gazette kam ohne mindestens eine ganze lyrische Seite aus.
Es ist natürlich nur meine ganz persönliche Meinung, aber ich glaube, dass die vor und um die Jahrhundertwende ihre Abwege beginnenden "modernen" Schreiber diese Breitenwirkung verscherzten, weil sie sich in solch verkopfte Sprachexperimente mit künstlerischem Anspruch verstiegen, dass ihnen die breite Masse der damaligen Leserschaft nicht weiter folgen konnte oder wollte. Die Greuel der Weltkriege taten ein Übriges dazu, die Gesellschaft zu "prosaisieren". Es gab Wichtigeres als Lyrik. Die Gedichte verschwanden aus den Medien, weil viele das "moderne Zeux" nicht nachempfinden oder verstehen konnten - oder weil, wie oben beschrieben, einfach das Herz nicht mehr angesprochen wurde. Hirnwixerei eben ...
Wer alte Werbetexte oder -filme kennt, weiß, dass bis zum 2. WK und eine kurze Weile danach kaum ein Spot ohne Reim auskam. Viele waren sogar NUR in Reimform abgefasst. Aber plötzlich galt das als altbacken und verpönt. Es war ohnehin ein Fehler und vielleicht der letzte Sargnagel der Reimkunst: Werbung ist eine Lüge, eingehend verpackt. Aber wenn Lyrik lügt, verrät sie sich selbst. Die Menschen nahmen das unterbewusst durchaus wahr. So lustig und eingängig ein Werbereim auch sein mochte - man erkannte die manipulative Absicht dahinter. Man hat etwas Edles wie die Reimkunst missbraucht, um mehr Zigaretten oder was auch immer zu verkaufen, und das obendrein oft in armseliger Qualität, verglichen mit dem Schaffen wirklicher Dichter! Auch das hat viel verdorben und führte dazu, dass man Gereimtes nicht mehr ernst nahm. Nur wenige setzten noch lange weiterhin darauf, wie ZB Asbach Uralt ... (Wer kennt's noch?)
Aber warum ist ein Kinderbuch wie der Struwwelpeter noch heute ein gefragter Klassiker? Warum lesen so viele noch immer Wilhelm Busch, und nicht unbedingt nur Max und Moritz? Reime, so simpel sie für die Ansprüche kleiner Geister auch sein mögen, gehören zu unseren frühesten kindlichen Erinnerungen - und das aus gutem Grund!
Sind sie wohlgefertigt, sprechen gute Gedichte etwas in uns an, etwas Musikalisches, aber auch noch tiefer Liegendes - Basisemotion, innerster Kern. Einfach, aber mächtig. Reime sind Magie. Sie versöhnen Bewusstes und Un(ter)bewusstes in einem einzigen melodischen Gedanken. Das greift in die Saiten der Seele (oder des Bewusstseins für jene, die mit Seele nix am Hut haben ...) und lässt sie mitschwingen! DAS ist Lyrik!
LG, eKy