Autor Thema: Größer im Verzichte  (Gelesen 1330 mal)

Erich Kykal

Größer im Verzichte
« am: August 06, 2018, 16:36:26 »
Aus leichten Siegen, die wir uns versagen,
den Rosen, welche nie für uns erblühn,
erwachsen Wurzeln tiefer unterm Grün,
die bis ins Herz des Wesentlichen ragen.

Aus allem Streit, auf den wir groß verzichten,
wächst innerlich ein neuer Seelenbaum
und gibt dem Rauschenden der Seele Raum,
woraus wir Brücken zu uns selbst errichten.

Erfüllung macht uns ärmer nur an Leben:
Erfülltes darf sich einzig selbst genügen.
Kein Sehnen mehr, kein innerstes Bestreben

bewegt noch jene, die Vollendung finden,
und alles Weitere wird sie belügen,
bevor sie überreifen und verschwinden.
« Letzte Änderung: November 23, 2018, 15:53:10 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Größer im Verzichte
« Antwort #1 am: November 20, 2018, 15:04:45 »
Dieses Gedicht ist ein berückend schöner Rohdiamant... ein paar inhaltliche Unsauberkeiten machen die - im Wortsinn - tiefgründigen Zeilen aber m. E. unnötig schwerverständlich.
Das erste Mal hast Du mich bei den Dornenrosen abgehängt. Eine blütenlose Dornenrose ist, so finde ich, der desöfteren bei der Gartenarbeit von Rosendornen geplagt wurde, ein gar unerfreulich Ding! Und dieses Dornengestrüpp soll im Folgenden Wurzeln im Wesentlichen schlagen? Ich verstehe, denke ich, schon Deine Intention und Du siehst die tiefwurzelnden Dornenrosen offenbar als ein gerade genügend zweideutiges Bild an, um hierdurch den Umschlag vom vermeintlich (!) Negativen (dem verschenkten Sieg) ins eigentlich Positive, die gelungene Seelenbildung, zu veranschaulichen. Aber zumindest für mich hats nicht hingehauen... ich hasse Dornenrosen (jedenfalls, wenn ohne Blüte).
Der zweite Strauchler folgte in der nächsten Strophe beim Wechsel von einem Wir ("auf den wir groß verzichten") zu einem Du (deiner Träume Raum) und wieder zurück (zu uns selbst).
Das dritte Problem ergab sich bei den vielen "sie" in der letzten Strophe: erstens klingt diese "Sie-Häufung" etwas unschön und zweitens ist das erste "sie" ein anderes (die Erfüllung von drei Zeilen weiter oberhalb) als die folgenden beiden. Es hat etwas gedauert, bis ich mich da zurechtfand.

Versuch der Beklugfummelung:

Aus leichten Siegen, die wir uns versagen,
den Schattenpflanzen, welche niemals blühn,
erwachsen Wurzeln tiefer unterm Grün,
die bis ins Herz des Wesentlichen ragen.

Aus allem Streit, auf den wir groß verzichten,
wächst innerlich ein neuer Seelenbaum
und leiht dem Rausch der Träume einen Raum,
woraus wir Brücken zu uns selbst errichten.

Erfüllung macht uns ärmer nur an Leben:
Erfülltes darf sich einzig selbst genügen.
Da wächst kein Sehnen mehr und kein Bestreben

in jenen, die ein Ziel für sich erfinden,
und alles Weitere wird sie belügen,
bevor sie überreifen und verschwinden.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Größer im Verzichte
« Antwort #2 am: November 21, 2018, 17:01:47 »
Hallo ihr zwei,

ich hätte eine Zeile ganz einfach umgeschrieben.

Das zwar sehr realistisch anmutet, aber auf dem zweiten Blick doch komplexer wirkt!


"und leiht dem Wunsch zu leben einen Raum,"

Tolles Sonett, Erich.

vlg

EV

Sufnus

Re: Größer im Verzichte
« Antwort #3 am: November 22, 2018, 16:01:21 »
Beim nochmaligen Überdenken bin ich eigentlich weder mit meinem Korrekturvorschlag für S2Z3 noch mit EVs Idee ganz zufrieden... aus dem Rauschen einen Rausch zu machen, verändert schon recht nachhaltig die Textintention, und EVs Variante leitet ebenso in gänzlich andere inhaltliche Gefilde und führt auch noch eine klangliche Wortdoppelung ein, da zwei Zeilen später das "Leben" auftaucht.

Andere Ansätze:
- und gibt dem Rauschen unsrer Träume Raum
- und gibt dem träumerischen Rauschen Raum
- und gibt den Träumen rauschend einen Raum
- gibt rauschend den verzweigten Träumen Raum
o. ä.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Größer im Verzichte
« Antwort #4 am: November 22, 2018, 19:30:01 »
Beim nochmaligen Überdenken bin ich eigentlich weder mit meinem Korrekturvorschlag für S2Z3 noch mit EVs Idee ganz zufrieden... aus dem Rauschen einen Rausch zu machen, verändert schon recht nachhaltig die Textintention, und EVs Variante leitet ebenso in gänzlich andere inhaltliche Gefilde


Von was träumen wir, wenn nicht von einem erfüllten Leben? Erst recht, wenn von Seelenbäumen die Rede ist.

Das Problem sind auch die Adjektive. Man muss halt die Fünfheber vollbekommen. Denn ob Träume wirklich rauschen ist eine andere Frage, aber die Metapher zielt darauf ja auch nicht ab.

Andere Ansätze Version 1 von Sufnus gefällt mir.

Agneta

  • Gast
Re: Größer im Verzichte
« Antwort #5 am: November 22, 2018, 20:23:37 »
Lieber Erich,

ein Sonett über ein philososphisches Thema des konfuzionalen Denkens. Die Dornenrosen, die uns quälen geben uns mehr als der leichte Sieg, den wir erkämpfen könnten. denn Leid macht uns bescheiden.
Ok, da gehe ich mit. Andrerseits stärkt ein Sieg auch das Selbstbewusstsein und auch das macht glücklich.
Die Sehnsucht nach etwas treibt uns voran, der Weg ist das Ziel. Und gibt uns innere Größe.
Auch ok.
Dennoch möchte ich gesteckte Zeiel auch erreichen. Der Weg ist nicht mein Ziel, sondern er ist der Weg zum Ziel.

Brücken zu uns selbst errichten durch einen nicht ausgetragenen Streit. Hm. Kann nicht für jeden Streit gelten, denke ich...
Aber im Resumee nehme ich deine guten gedanken als Faden zur Mitte, Maß halten .
Sich am Kleinen freuen, auch die Dornenrosen gießen, nicht jeden Streit um des Sieges Willen austragen und im Allgemeinen auf die innere Balance achten.

Gerne gelesen und ohne Meckern mit lG von Agneta

gummibaum

Re: Größer im Verzichte
« Antwort #6 am: November 23, 2018, 08:45:59 »
Ein schönes und wesentliches Gedicht, lieber Erich.

Man spürt, dass die alte Weisheit nicht zitiert wird, sondern selbst erlebt wurde und das eigentliche Therapeutikum unserer Gegenwart bilden könnte. Der Verzicht auf Dinge oder Siege, der vor dem unfruchtbarten Sattsein schützt, trägt reichere Früchte als der vordergründige Gewinn.

Mit Freude gelesen

Liebe Grüße gummibaum




Erich Kykal

Re: Größer im Verzichte
« Antwort #7 am: November 23, 2018, 16:08:21 »
Hi ihr Guten!

Vielen Dank für das vielseitige Echo auf diese etwas älteren Zeilen - scheint gut zu sein, dass ich derzeit nichts Neues schreibe, so kommen ältere Werke doch noch zu Kommis!  ;) ;D

Scherz beiseite - Dank an Suf für's Ausgraben, und Dank für die Erwähnung der schwerer verständlichen Stellen. Ich habe diese nun oben überarbeitet und hoffe, überall eine passable Lösung gefunden zu haben, ohne den Sinn zu verändern.

Hi Agneta!

Gemeint ist: wir reiben uns ständig aneinander, weil wir unterschiedliche Ziele verfolgen, und zwar mit Überzeugung bis Intoleranz, mit Sturheit bis Gnadenlosigkeit, mit Seelenglut bis Seelenkälte! Stünden wir über unseren so zahlreichen und so oft oberflächlichen Zielen, es gäbe keine Konflikte. Unser Streben nach Vollendung/Erfüllung ist so fehlerhaft, weil wir fehlerhaft sind, und darum unsere Vorstellungen von Vollendung/Erfüllung in einem Ziel.

Das Akzeptieren steten Wandels - auch unserer selbst - fällt dem Menschen ungemein schwer, da er statisch denkt. Aber hütet euch vor erreichten Zielen und verwirklichten Träumen! Nichts macht uns die innere Leere, die Sinnlosigkeit unserer Existenz offenbarer, mit der wir nicht umzugehen verstehen, weil wir geistig noch zu klein sind, um ohne ein Konstrukt der Bedeutung sein zu können. Darum auch erschaffen wir uns Götter.


LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Curd Belesos

Re: Größer im Verzichte
« Antwort #8 am: November 26, 2018, 21:53:14 »
Der Verzicht auf Dinge oder Siege, der vor dem unfruchtbarten Sattsein schützt, trägt reichere Früchte als der vordergründige Gewinn.

moin moin Erich,

ich liebe gummibaums Art, Dinge manchmal kurz und treffend zu beschreiben. Besser als er, kann ich dein Sonett nicht kommentieren und loben.

Fast mit Ehrfurcht gelesen  ;)

LG
CB
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re: Größer im Verzichte
« Antwort #9 am: August 12, 2020, 12:37:21 »
Hi Curd!

Hab (späten!) Dank für deine wohlwollenden Zeilen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.