Autor Thema: Der digitale Schüler  (Gelesen 1573 mal)

gummibaum

Der digitale Schüler
« am: Februar 04, 2022, 01:01:51 »
Als sie noch Gehirne hatten,
ging ihr Lernerfolg oft baden.
Kraniale Speicherplatten
lassen sich viel leichter laden.

Nichts mehr sickert ins Vergessen
oder scheitert am Verweigern.
Maschinelles Faktenfressen
lässt sich ohne Grenze steigern.

Keine Skrupel mehr durchs Denken,
keine Angst vor den Zensuren.
Willig lässt sich jeder lenken
und genießt, auf Klick zu spuren...
« Letzte Änderung: Februar 05, 2022, 18:35:44 von gummibaum »

Rocco

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #1 am: Februar 04, 2022, 04:49:30 »
Hallo Gummibaum,

die Kritik am hirnlosen lernen ist klar - soweit klar.

Leider hast du etwas übersehen: die Algorithmen.

Man kann sie so einstellen, dass man dabei lernt, oder nicht.

Ich denke, deine Kritik zielt ins Leere. Denn es sind immer Menschen, die Entscheidungen treffen.

Die 68er wollten selbst entscheiden, was gut für sie ist. Damals war das ein Fortschritt.

Wo aber sind wir gelandet? Wer heute Zigeunerschnitzel sagt, gilt als Rassist.

Das hat mit Digitalisierung wenig zu tun. Vielleicht auch, aber es sind immer noch Lehrer und Lehrpläne, die über Wissen entscheiden.

Auch mit dem Faktenfressen ist das so eine Sache: Ich zum Beispiel bin in Geschichte miserabel. Das kommt daher, dass ich mir keine Jahreszahlen merken kann. Es macht keinen Sinn, mich zu fragen, wann der Bauernkrieg stattgefunden hat. Ich könnte dir den Hintergrund nennen, aber mit Zahlen und Daten kann ich nicht aushelfen.

Ich kenne Leute, die groß sind, was Zahlen und Daten anbelangt. Aber verstehen die auch die Hintergründe und Zusammenhänge?

Was bitte soll sich daran, auch im digitalen Zeitalter, ändern?

Ich behaupte: wenig.

Du meinst, wer denkt, hat Skrupel und lässt sich weniger lenken? Kann sein. Muss aber nicht immer so sein.

Denken ist keine Garantie.

Ich schlage vor, dass man auch über Werte und Ideale diskutieren sollte. Das ist es doch eigentlich, was du mit seiner Kritik bezweckst?

Dir einen schönen Tag

Rocco

"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

gummibaum

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #2 am: Februar 04, 2022, 17:51:24 »
Danke für deine Kritik, lieber Rocco.

Das Gedicht ist sicher nur eine schwache Leistung.

Grüße von gummibaum

Rocco

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #3 am: Februar 05, 2022, 17:28:48 »
Hallo Gummibaum,

wir sind ein Forum, wollen uns also austauschen. Dass man nicht alles weiß, nicht alles bedenken kann, halte ich für menschlich.

Ich freue mich auf weitere Gedichte von dir!

Einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #4 am: Februar 05, 2022, 18:50:48 »
Um Roccos letzten Gedanken - wir sind ein Forum - aufzugreifen: Ein solches lebt insbesondere von der Vielfalt der Stimmen und also auch von abweichenden Meinungen... ich beliebe hier zum Beispiel Roccos Aussage, dieses Gedicht "ziele mit seiner Kritik ins Leere" entschieden zu widersprechen! ;) Dieses ganz und gar wunderbare Gedicht (gum darf  ich also auch gleich mit widersprechen  ;D ) ist soviel mehr als nur zu Lyrik extrudierte Gesellschaftskritik. Es handelt sich hier um eine kleine Kostbarkeit von einem Reim- und Klangkunstwerk, in dem die Zeilen durch feine (und eben deshalb auch gar nicht aufdringliche) Aliterationen und Assonanzen zart verklammert sind und die Verse gerade zu champagnerhaft dahinperlen. Ein Genuss, ganz unabhängig von der Aussage!
Und was den Inhalt angeht: Es wäre ein Verlust, das Gedicht nur metaphorisch zu lesen - im Sinne einer Kritik am stumpf-maschinellen Auswendiglernen ohne Tiefenverständnis. Die "Story" dieser Verse will m. E. nämlich zunächst ganz wörtlich und un-synekdochenhaft als - wieder einmal - eine Metamorphose gelesen werden: Was wäre denn, wenn die Schülerhirne durch ein nicht näher erklärtes Geschehen gegen elektronische Speicherplatten ausgetauscht würden. Endlich, endlich, gäbe es eine Schule ohne Zensuren (die ja bei fehlerfreier EDV in den Schülerköpfen) keinen Sinn mehr ergeben würden, da sowieso jeder eine 1+ bekäme. Wäre das nicht schön? ;)
Ich liebe diese Zeilen sehr! :)
LG!
S.

gummibaum

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #5 am: Februar 06, 2022, 11:35:54 »
Danke, lieber Rocco.


Lieber Sufnus,

wieder eine sehr freundliche und genaue Analyse, besonders, weil sie nicht nur den Inhalt, sondern auch die Sprache, die mir ohne wichtiger erscheint, berücksichtigt. Ich fand das Gedicht mäßig, aber jetzt...

„Extrudierte“ kannte ich nur aus der formgebenden Kunststoffverarbeitung. Inhaltlich auch Metamorphose, das stimmt.

 
Grüße von gummibaum

Erich Kykal

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #6 am: Februar 06, 2022, 12:24:55 »
Hi Gum!

Für mich zielt das Gedicht eher in die projizierte Zukunft, also sozusagen eine mahnende Gesellschaftskritik an einen möglichen Entwicklungsschritt. Wenn die Technik es möglich macht, dass wir zu Cyborgs werden - du schreibst ja von "kranialen Speicherplatten", ich sehe das als maschinelle "Verbesserung" des menschlichen Hirns und Geistes, Hardware wie Software, wenn es endlich die schon lang gesuchte mögliche Schnitt- und Interaktionsstelle von anorganischer und arganischer Intelligenz gibt.

Lernen würde viel leichter oder ganz hinfällig, wenn man sich alle Inhalte gleich direkt auf die interne Festplatte laden kann. Autofahren - in 5 Sekunden rebootet und ready to drive! Einen Düsenjet steuern - ebenso kein Problem. Alles über Kernphysik lernen - sofort abrufbar! Jeder kann alles, je nach Bedarf oder Geldbeutel (das kommt auf das Gesellschaftssystem an, das derlei zur Verfügung stellt).

Die Crux daran mag jedoch die mögliche direkte oder indirekte Steuerbarkeit von außen sein, die uns entweder zu totalen Zombies machen kann, oder unserem organischen Part dann über die maschinelle Seite ständig "Fake Facts" einflüstert, um bösartig zu manipulieren. Das passiert ja seit eh und je, aber eben über unsere Schnittstelle mit der Außenwelt, unsere Sinne, und wir entscheiden selbst, was wir hören, was wir davon glauben und annehmen wollen. Mit einem direkten Zugang über Computer im Kopf mag das dann anders sein ...

Was wir uns von außen runterladen, kann jederzeit verfälscht sein - und wer kann den Unterschied feststellen? Wer liest noch nach in Archiven und Bibliotheken? Die tatsächliche Geschichte, das tatsächliche Sein wird formbarer denn je - ganz nach den jeweiligen Interessen der Provider!
Urteile werden noch viel rascher gefällt, Konformität im schlimmsten Falle zur neuen Prämisse einer ferngesteuerten Gesellschaft, wenn sich bestimmte Inhalte durchsetzen und als quasireligiös unantastbar definiert werden. Wenn Gehorsam schon zum Basissetting gehört, wird der Mensch beliebig programmierbar.

Wird es so kommen?


LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Der digitale Schüler
« Antwort #7 am: Februar 06, 2022, 19:00:40 »
Wer weiß...

Ja, lieber Erich, es geht um Science fiction/Dystopie. Schöne Gedanken entwickelst du dazu.

Wie diese Speicherplatte aussieht, weiß ich auch nicht, aber vielleicht wird schon daran gearbeitet. Effektivität der Arbeitskraft und Manipulierbarkeit des Menschen spielen eine große Rolle. 

Besten Dank und liebe Grüße
gummibaum