Autor Thema: Wie Noah  (Gelesen 787 mal)

gummibaum

Wie Noah
« am: April 07, 2022, 17:33:04 »
Es regnet  unentwegt in wilden Güssen.
Der kleine Gully hustet vor dem Haus.
Passanten, die inzwischen schwimmen müssen,
sind überrascht und sehen komisch aus.

Ich schaue zu, wie sich die Autos küssen,
wenn sie das Wasser kreiselnd weiter schiebt,
und, animiert von Strudeln in den Flüssen,
ein Bett sich in den Kleiderschrank verliebt.

Ich wecke, dass mein Fuchsschwanz nicht nur schnarche,
denselben grad zur rechten Zeit noch auf,
zersäg die Möbel, baue eine Arche,
und nehme Platz darin zum Stapellauf.

Ich nehme auf den hohen Bergesspitzen
zwei Tiere jeweils einer Art an Bord,
und neben mir darf Mariella sitzen.  -
Mein Enkelkind hat Spaß an Wassersport… 



Erich Kykal

Re: Wie Noah
« Antwort #1 am: April 07, 2022, 17:38:34 »
Hi Gum!

Ein herrllich verschmitzt augenzwinkerndes Sintflutgemälde!  ;D

Gut angefeuchtet gelesen!  ;) :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Wie Noah
« Antwort #2 am: April 13, 2022, 16:04:28 »
Ja lieber gum, das sind wirklich schöne Zeilen, trotz ihres apokalyptischen (bzw. kataklysmischen) Impetus vermögen sie die Laune zu kitzeln und geben der nachrichtenbedrängten Seele etwas Auftrieb (was man wiederum bei einer globalen Überschwemmung wie der von Dir geschilderten natürlich ganz gut gebrauchen kann - den Auftrieb meine ich ;) ).

Interessant finde ich übrigens, dass die erste Strophe (und mit Einschränkung auch noch die zweite) ein bisschen an expressionistische Weltuntergangsgedichte erinnert. Die Technik ist hierbei, dass relativ unverbundene Bilder aneinander gereiht werden, wobei typischerweise jedes Bild innhalb einer Zeile abgeschlossen wird. Man spricht hier von Reihungsstil (Aneinanderreihung von Einzelbildern) in Kombination mit einem Zeilenstil (ein Bild pro Zeile). Das ist in Deinem Gedichtbeispiel nicht vollkommen streng durchgehalten, da das Bild des unentwegten Regengusses (Z.1) ja schon eine gewisse logische Verknüpfung mit dem hustenden Gulli zulässt. Auch gehen manche Gedanken über zwei Zeilen (Z.3/4). Aber im Grundsatz erinnert der Einstieg des Gedichts sowohl vom Sujet als auch von der Technik ein bisschen an "Weltende" von Jakob van Hoddis, das ja DAS paradigmatische expressionistische Gedicht in allen Anthologien landauf und -ab ist (wenngleich es nicht das beste expressionistsiche Gedicht darstellt, wie ich finde).

Mit der Einführung des "Ich" in S.2 lockert sich diese expressionistische Haltung dann schon und ab S.3 wechseln die Zeilen dann ins stärker humorige Fach. Nach dem kalten Guss der ersten Strophe lichtet sich im Fortgang der Himmel also und am Ende sieht der Leser wieder die Sonne lachen und Käptn Gum wirft die Dampfturbine an, damit Mariella eine schöne Runde Wasserski genießen kann - angefeuert von der heiteren Menagerie an Bord. Lächeln. :)

LG!

S.

« Letzte Änderung: April 13, 2022, 16:13:04 von Sufnus »

gummibaum

Re: Wie Noah
« Antwort #3 am: April 14, 2022, 14:51:30 »
Danke, lieber Erich,

für deinen Spaß an dem Gedicht. Ich freue mich.


Danke, lieber Sufnus,

für den wieder sehr detaillierten Kommentar, der kenntnisreich die formale Eigenschaften des Gedichts und einfühlsam seine Tendenz, von der Traufe in den Regen zu führen, zeigt.


Euch liebe Grüße von gummibaum
« Letzte Änderung: April 14, 2022, 14:54:17 von gummibaum »

wolfmozart

Re: Wie Noah
« Antwort #4 am: August 19, 2022, 19:14:12 »
Hallo Gummibaum,
wenn ich in deinem Poem lese...

Ein Bett sich in den Kleiderschrank verliebt,
Wie sich die Autos küssen

...dann freu ich mich für die deutsche Dichtkunst wie ich sie mir erhoffe.
Und seh dass ich mit meinen Wort-Verschränkungen nicht allein bin.

Ein Werk das wieder deinen Spitzenplatz in der Lyrik einfordert.

 Gruß
wolfmozart
« Letzte Änderung: August 19, 2022, 20:11:57 von wolfmozart »