Autor Thema: Am Rand  (Gelesen 644 mal)

gummibaum

Am Rand
« am: Januar 23, 2022, 14:44:13 »
Ich merke, wie sie ohne Halt verschwinden,
Gedanken, die ich eben erst gedacht.
Ihr Funkenflug erlischt in weiter Nacht,
und was er trug, lässt sich nicht wiederfinden.

Ich spüre, wie sie dämmern und erblinden,
Gefühle, bunt und reich in mir erwacht. 
Ihr Farbenspiel ist in ein Grau verflacht,
und wie verwischt von regenfeuchten Winden.

Was ich erinnern will, ist fortgegangen
und ließ nur leere Räume mir zurück.
In ihrem dunklen Labyrinth gefangen,

bin ich ein Irrender, und was ich pflück
noch hastig in den Nebeln, aus Verlangen
zu fassen und halten, bringt kein Glück…


 
« Letzte Änderung: Januar 24, 2022, 15:10:17 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Am Rand
« Antwort #1 am: Januar 23, 2022, 22:29:35 »
Hi Gum!

Schönes Sonett - dieser lyrischen Form solltest du dich öfter befleißigen!

Es beschreibt die - vielleicht alters- oder krankheitsbedingt gesteigerte - Vergesslichkeit, oder der Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Man lässt unfokussiert die Gedanken kreisen, einer gibt den nächsten, die Inhalte wechseln freiflottierend, verschwimmen ineinander, und schon nach Minuten weiß man gar nicht mehr, womit man eigentlich begonnen hatte!  ::)

Worum ging's gleich eben!?  :o

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Am Rand
« Antwort #2 am: Januar 23, 2022, 22:44:22 »
Genau, lieber Erich. Vielen Dank.

Bei den Quartetten hab ich noch umformuliert, an der Aussage aber nichts geändert.

Dir eine gute Nacht!

LG g



Erich Kykal

Re: Am Rand
« Antwort #3 am: Januar 23, 2022, 23:03:36 »
Hi Gum!

Worauf genau bezoeht sich der Titel "Am Rand"? Ist der Rand der Gedanken gemeint, der Rand des Wahnsinns, der Rand der Wahrnehmung, des Erinnerns, der Rand der Realität, des Lebens, ...?

Die Änderungen gefallen mir - es ist wichtig, die Sprache auf hohem Level zu halten, die Konstruktionsbasis aber möglichst einfach und übersichtlich zu gestalten. Der lesende Geist soll nicht ins Stocken kommen, weil er im Kopf erst mal die Satzteile inhaltlich aufdröseln und Bezüge übereinstimmen muss. Schöne Sprache, aber bei allem Dekor klar verständlich und übersichtlich strukturiert - das ist das Rezept für gute Lyrik.

zB würde ich die Z4 von S2 nicht mit einem neuen Subjekt ("alles Ragende" - wirkt auch etwas staksig, oder?) und somit einem neuen Extrabild ausstatten, sondern sie mit vertiefendem Bezug auf das zuvor schon etablierte "Farbenspiel" gestalten:

Ihr Farbenspiel ist in ein Grau verflacht,
und wie verwischt von regenfeuchten Winden.

Aber das sind alles letztendlich Präferenzen persönlichen Geschmacks.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Am Rand
« Antwort #4 am: Januar 23, 2022, 23:39:19 »
Am Rand der geistigen Umnachtung.

Ich konnte früher schneller denken, besser behalten, farbiger empfinden.

Danke für deine Thesen zur Sprache der Lyrik, Erich.  Das sehe ich auch so.

Kann ich deinen Vorschlag für S2/Z4 übernehmen, Erich? Hab ich einfach mal so gemacht.

LG g

 
« Letzte Änderung: Januar 24, 2022, 15:11:06 von gummibaum »

a.c.larin

Re: Am Rand
« Antwort #5 am: M?RZ 16, 2022, 05:28:09 »
Hallo gummibaum,

Was du bedichtet hast , erinnert mich an den Zustand des Halbschlafes, nicht mehr im Traum, aber eben auch noch nicht vollends wach, wenn die Gedanken ganz eigenartige Kringel erzeugen.
Die besten Ideen erwachsen mir aus diesem Zustand, falls - ja, falls!- man sie zu fassen kriegt, denn sie sind schlüpfrig wie Fische und entgleiten einem auch mühelos, nur einen dumpfen Widerhall, ein vages Gefühl hinterlassend.....

Das hast du überaus trefflich beschrieben, Chapeau!

LG,Larin

Sufnus

Re: Am Rand
« Antwort #6 am: M?RZ 16, 2022, 15:17:56 »
Hi gum!

"Dank" meiner aktuell etwas reduzierteren Aktivitäten im Netz habe ich viele schöne Gedichte der letzten Monate noch nicht kommentiert - dieses gehört dazu, und es freut mich sehr, dass Larin es nach oben geholt hat! :) Wobei "schön" bei diesem Gedicht natürlich eigentlich kein ganz passendes Attribut ist, leuchten die Zeilen doch in die Angstabgründe vor geistigem Abbau. Nun... die Zeilen verleihen der Furcht vor dem mentalen Bröckeln immerhin derartig gekonnt Ausdruck, dass sie damit die Befürchtung des lyr. Ichs überzeugend widerlegen. :)

Immerhin - fast jeder, der das Glück hat, in einer Wohlstandsoase bei unverschämt angenehmen "Haltungsbedingungen" das Dasein auszukosten,  möchte doch ein hohes Alter erreichen und eine gewisse geistige Verwitterung ist der Preis, der hierfür zu zahlen ist. Dabei bleiben auch die "geistig regen" Oldies keineswegs vor gewissen Intellekteinbußen verschont. Die Fähigkeit zum "Querdenken" nimmt ab, die Buntheit des jugendlichen Denkens weicht entsättigten Pastelltönen, die Lernfähigkeit sinkt, zunächst im Bereich komplexer prozessuraler Vorgänge (ein gänzlich neues Musikinstrument lernen, komplizierte Maschinen bedienen), dann auch im Bereich des Faktenlernens usw. usf. Diejenigen unter uns, die mit einer etwas korrosionsfesteren Denke gesegnet sind, können immerhin trotz der skizzierten Ausfälle durch Routine, Fokussierung auf das Wesentliche und - im weitesten Sinne - "Lebenserfahrung" ein Hirnleistungsniveau aufrecht erhalten, dass ihnen das Label "Demenz" erspart, aber ob man zu den Glücklichen zählt, auch mit 90+ noch als mental fit gelten Mitmenschen, die ich aus größerer Nähe erleben durfte, eigentlich sehr lange noch etwas erhalten blieb, dass ich als "Persönlichkeitskern" bezeichnen würden. Und mehr noch: Viele dieser von Demenz (durchaus schön höhergradig) Betroffenen, gewannen einen eigenartigen, leicht anarchistischen, aber durchaus gutmütigen Witz hinzu, den ich an ihnen vorher nicht erlebt hatte und der oft geradezu charmant zu nennen war. Soweit die Personen (zwei kenne ich) künstlerisch tätig waren, kam dies sogar ihrem artistischen Schaffen regelrecht zugute. Die "Reise in den Sonnenuntergang des Lebens" (Reagan) soll nicht etwa verharmlost werden, doch diese Zeit der geistigen Abenddämmerung birgt durchaus auch erfüllte, glückliche Momente.

Unabhängig von diesen inhaltlichen Reflexionen ist das ein wirklich formvollendetes Sonett! :) In den beiden Quartetten finden wir die klassischen umarmenden Reime, die sich gemäß der strengen Regel mit nur zwei Reimendungen begnügen und in den Terzetten ist der Schwierigkeitsgrad im Vergleich zum "schulbuchmäßigen" Sonett sogar noch etwas angehoben worden, weil hier ebenfalls nur zwei Reimendungen zu finden sind, wo doch die Klassiker drei Endungen erlauben. :)

Sehr gerne gelesen!

S. 

Rocco

Re: Am Rand
« Antwort #7 am: M?RZ 16, 2022, 23:38:34 »
Hallo Gummibaum,

ich kann mich den Vorrednern nur anschließen. Vor allem die erste Strophe ist bildhaft-schön.

Insgesamt stimmige Bilder. Ein rundes Werk.

Dir einen schönen Abend!

Rocct
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

gummibaum

Re: Am Rand
« Antwort #8 am: M?RZ 18, 2022, 01:03:17 »
Danke, liebe larin.
 
Diesen Zustand, in dem das Gehirn durchlässiger in verschiedenen Richtungen (Erinnern, Kombinieren, Vergessen) ist, meinte ich zwar nicht, aber es gibt teilweise Entsprechungen. Ich dachte eher an Blockaden/Synapsensterben.


Danke, lieber Sufnus.

schön, dass du überhaupt kommentierst. Es ist doch normal, dass der Antrieb dazu mal abreißt. Deine Beschreibung der nachlassenden Gehirnleistungen und der Wesensveränderungen im Alter habe ich mit Interesse gelesen.


Danke, lieber Rocco, für dein Lob.


Euch liebe Grüße von gummibaum