Hi Copper,
dass Du in der Gleichberechtigung der Geschlechter kein Problem siehst, eine aktive Rolle von Männern bei der Elternschaft, auch auf Kosten der Karriere, vorgelebt hast und Frauen als Vorgesetzte akzeptierst, freut mich zu lesen - ich halte dies alles für eine Grundvoraussetzung, um mit einem Mitmenschen überhaupt zu diskutieren. Wer in einem dieser Punkte anfinge, zu relativieren und rumzueiern, wäre für mich kein Diskussionspartner mehr, sondern ein ideologischer Gegner.
Im Hinblick auf das Leben im Mutterleib erzeugst Du allerdings eine künstliche Schwarz-Weiß-Welt insofern, als Du die Möglichkeit existentieller Konflikte zwischen zwei erstrangigen Gütern (Würde der Mutter und Würde des ungeborenen Kindes) leugnest.
Das ist nicht zielführend, wenn man ein funktionierendes Regelwerk aus den Grundwerten ableiten will. Es ist gerade eine der vornehmsten Aufgaben des Staates, den moralischen Überbau einer Gesellschaft in ein anwendbares Sytem von Regeln zu überführen und dabei kommt es entscheidend auf den Umgang mit Konflikten zwischen zwei oder mehr moralischen Werten an.
Es ist wahrscheinlich weniger emotional diskutierbar, wenn wir uns erst einmal in einem anderen Bereich anschauen, was ich genau mit einem Konflikt zwischen zwei Grundwerten meine. Also z. B.: Schutz der Meinungsfreiheit versus Schutz der persönlichen Würde. Ein wichtiger Stützpfeiler der Meinungsfreiheit ist die weitgehende Vermeidung von Zensurmaßnahmen des Staates gegenüber der Presse. Was aber tun, wenn ein Presseorgan herabsetzende und entwürdigende Darstellungen über eine Einzelperson verbreitet? Offensichtlich geraten hier zwei Grundwerte in Konflikt.
Anderes Beispiel: Recht auf körperliche Unversehrtheit versus Schutz der Allgemeinheit. Nehmen wir an, es käme wieder zu einem Ausbruch der Pocken (ich meine jetzt Variola, nicht die Windpocken). Dann stünden die Einführung einer zwangsweisen Abriegelungs-Impfung und Quarantäne-Maßnahmen zur Debatte, um Personen außerhalb des Gebietes des Krankheitsausbruchs zu schützen. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Pockenimpfung zu den schlecht verträglichen Impfungen gehörte mit einer nicht ganz vernachlässigbaren Rate problematischer Nebenwirkungen, so ist hier die Entscheidung nicht ganz so trivial zu fällen, wie man zunächst vielleicht denken könnte.
Grundsätzlich gibt es nun bei Konflikten zwischen zwei Grundwerten zwei denkbare Möglichkeiten: Entweder man entscheidet sich, einen der beiden Werte absolut zu setzen, dann kommt der entgegenstehende Wert sozusagen "nicht dagegen an". Oder man versucht, Kompromisslösungen zu finden. Das ist die Menschheits-alte Unterscheidung zwischen fundamentalistischen und relativierenden Positionen. In offenen, demokratischen Gesellschaften ist aufgrund des Systemcharakters dieser Gesellschaftsordnung immer eine Tendenz zu relativierenden Positionen vorhanden. Das halten viele, die in solchen Gesellschaften aufgewachsen sind, für selbstverständlich. Der Blick über den Tellerrand zeigt aber natürlich, dass dem keineswegs so ist und die Dinge durchaus immer im Fluss sind.
Ein sehr schönes Beispiel - um wieder zum eigentlichen Diskussionspunkt zurückzukommen - wird in der Serie (bzw. dem zugrundeliegenden Buch) The Handmaid's Tale (Der Report der Magd) durchgespielt. Gerade die derzeit laufende Serie sollte sich jeder einmal zu Gemüte führen. Hier wird einmal genau (und durchaus differenziert, wie man merkt, wenn man einige Folgen der Serie durchhält) durchgespielt, was passiert, wenn die Zeugung von Kindern als absoluter Wert (im oben skizzierten fundamentalistischen Sinne) einer Gesellschaft definiert wird. Der fiktive Hintergrund ist, dass Kinder in der dystopischen Serienwelt durch eine drastische Reduktion der Zeugungsfähigkeit von Frauen zur absoluten Mangelware wurden (in weit stärkerem Maße als dies in Industrienationen heute der Fall ist).
Ich würde sehr dafür plädieren, nein ich würde vehement fordern, dass der Schutz des ungeborenen Lebens zwar als grundlegender, aber gegenüber anderen Werten eben nicht absolut priorisierter (fundamentalistischer) Wert zu definieren ist, so dass man Konflikte mit anderen Werten "aushalten" muss und dann dafür (je nach Standpunkt mehr oder weniger rigide) Lösungsansätze vorschlagen kann.
VG,
S.